Brief von Martin Sprenger an Michael Fleischhacke
Lieber Herr Fleischhacker,
die Lebensweisheit „Hinterher sind immer alle klüger“ gilt natürlich auch für diese Pandemie. Aber nur, wenn alle hinterher klüger sind und somit etwas gelernt haben, können wir zukünftige ähnliche Herausforderungen besser bewältigen. Deshalb ist es so wichtig zurückzuschauen, kritische Fragen zu stellen, Entscheidungen zu evaluieren, vergangene Geschehnisse besser zu verstehen. Schauen wir also einmal kurz zurück auf meine drei persönlichen Schlüsselmomente.
Beginnen wir mit den Ereignissen in der Provinz Bergamo mit 1,1 Millionen Einwohnern. Nach einer eher schwachen Virensaison im Winter 2019/2020 konnte sich das neue Coronavirus SARS-CoV-2 im Jänner und Februar unerkannt in Norditalien verbreiten. Die anfängliche These, dass die relativ kleine chinesische Community für die Einschleppung verantwortlich war, hat sich bis heute nicht bestätigt. Der erste Tote Italiens wurde in Bergamo am 21. Februar registriert. Was in den darauffolgenden Wochen passierte, kann rückblickend nur als unglücklicher Teufelskreis bezeichnet werden. Zuerst füllten viele kranke hochbetagte Menschen die in den letzten Jahren finanziell ausgehungerten Krankenhäuser der Region. Anfangs dachten die Ärzte noch an eine verspätete Grippewelle. Als die Kapazitätsgrenzen erreicht waren, beschloss die Regionalregierung am 8. März, dem Tag des Lockdowns in der Lombardei, Patienten mit milden Symptomen in die Altersheime zu verlegen. Jedes Heim erhielt pro COVID-19-Patient 150 Euro am Tag. Die Folge war, dass Krankenhäuser und Altersheime zu Hotspots wurden und die Zahl der infizierten Personen aus der Hochrisikogruppe exponentiell stieg. Zusätzlich wurden zahlreiche Rettungskräfte, Pflegepersonen und Ärzte infiziert. Die Krankenversorgung kollabierte, und weil die lokalen Bestatter streikten, wurden die Toten mit Militärlastern weggeführt. Die zugehörigen Bilder gingen um die Welt und hatten eine nachhaltige Wirkung. In keiner einzigen anderen Stadt in Norditalien, inklusive Mailand, kam es zu ähnlichen Szenarios. Aber diese Aspekte wurden und werden nicht beachtet, warum auch immer. Hinterher sind nicht immer alle klüger.
Auf keinen Fall sollten Politiker weiterhin pauschal von ganz Italien, Frankreich oder Spanien reden. Das ist falsch und irreführend. Faktum ist, dass es in Europa nur wenige regionale Hotspots wie das Elsass, Madrid oder eben Bergamo gab, wo aus inzwischen nachvollziehbaren Gründen die Krankenversorgung zusammenbrach. In den allermeisten Regionen Europas ist das nicht passiert, nicht einmal annähernd. Bleibt zu hoffen, dass es in den nächsten Monaten detaillierte Analysen gibt, damit wir alle aus den Fehlern, die in den wenigen Hotspots gemacht wurden, lernen können. Mit Sicherheit haben Einsparungen und Privatisierungen im Gesundheits- und Pflegebereich, ebenso wie die hohe Infektionsrate in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen eine wichtige Rolle gespielt.
Am 12. März fand die vierte Sitzung der Coronavirus-Taskforce im Bundeskanzleramt statt. 26 Personen waren anwesend, darunter Bundeskanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister. Hände wurden keine geschüttelt, Masken getragen aber auch nicht. Die Stimmung war angespannt, die Bilder aus der Lombardei waren präsent. Aber auch die Zahlen aus Tirol waren besorgniserregend, und der Druck aus den skandinavischen Ländern, die schon eine Woche zuvor Tirol als Hotspot für eigene Infektionen identifiziert hatten, war spürbar. Die Sitzung wurde vom Bundeskanzler ausgezeichnet moderiert, alle Beiträge waren kompetent und sachlich. Beim Punkt Kommunikation war auch das Mittel der Angst kurz Thema. Die diesbezügliche Diskussion war für mich vollkommen adäquat, der Situation angepasst. Die Entscheidung mittels eines Lockdowns Geschwindigkeit aus dem Infektionsgeschehen zu nehmen, wurde von allen Mitgliedern der Coronavirus-Taskforce unterstützt. Rückblickend hätte nichts besser gemacht werden können. Das Timing des Lockdowns war nahezu perfekt.
Am 30. März war klar: Die österreichischen Krankenhäuser und Intensivstationen werden bei weitem nicht an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Das Ziel des Lockdowns war erreicht. Noch vor dem Wochenende hieß es, es werde keine Verschärfung der Maßnahmen geben. Das Timing der kommunikativen Deeskalation schien perfekt. Was für ein Irrtum. Am Montag traten Bundeskanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister gemeinsam vor die Presse und verkündeten „deutlich strengere Maßnahmen“. Der Grund waren die Empfehlungen eines der Coronavirus-Taskforce niemals vorgelegten „Expertenpapiers“. Der Bundeskanzler äußerte die Befürchtung, dass es in rund zwei Wochen zu Engpässen in den Krankenhäusern und zu einer Überforderung der Intensivmedizin kommen könnte. Es herrsche die „Ruhe vor dem Sturm“, und wie „grausam dieser Sturm sein kann, sieht man, wenn man in unser Nachbarland Italien schaut“. Rückblickend war diese Eskalation der Angst nicht faktenbasiert, vollkommen unnötig und hat viel vermeidbaren gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schaden verursacht. Das Expertenpapier war schon zum Zeitpunkt der Erstellung wissenschaftlicher Unsinn, so wie die darin prognostizierten zusätzlichen (!) 100.000 Toten immer vollkommen absurd waren. Trotzdem hat dieses Papier die österreichische Politik entscheidend beeinflusst. Rückblickend ein schwerer Fehler. Viel besser wäre es gewesen, Anfang April mit einer klugen Strategie der Deeskalation zu beginnen und wissensbasiert den Lockdown schrittweise und vorsichtig aufzuheben.
Jetzt haben wir Anfang Mai. Seit dieser unsäglichen Pressekonferenz der Regierung und dem apokalyptischen ZIB-2-Auftritt des Bundeskanzlers sind wieder fünf Wochen vergangen. Die Basisreproduktionszahl R0 liegt offiziell seit über drei Wochen unter 1 und die Zahl der positiv getesteten Fälle pro 10.000 Einwohner ist, bei einer relativ konstanten Anzahl von durchgeführten Tests, in den meisten Bezirken rückläufig. Viele Maßnahmen wurden gelockert, in den Einkaufzentren herrscht Hochbetrieb, die Friseure haben geöffnet, auf den Spielplätzen geht’s rund, und selbst in den Pflegeheimen sind Besuche wieder erlaubt. Die Angst in den Köpfen der Menschen ist geblieben. Die angeblich nie geschlossenen Volksschulen und Unterstufen nehmen am 18. Mai wieder ihren Betrieb auf, und am 3. Juni geht’s dann auch in allen anderen Schulen wieder los. Schüler müssen als einzige Bevölkerungsgruppe im Freien, auf dem Schulweg, einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Das ist gesundheitswissenschaftlicher Unsinn. Im Gegensatz zu Österreich sind die Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit in der Schweiz für die Schulen ausgewogen, wissensbasiert und öffentlich zugänglich. Wie viele Tage und Wochen es in einer Region keinen bestätigten Fall von COVID-19 mehr geben darf, bis alle Masken fallen, bleibt ungewiss. Bis auf Weiteres gilt das Vermummungsgebot. Ein Grund ist, dass sich alle vor der zweiten Welle fürchten. Diese kommt vielleicht nicht im Sommer, aber im Herbst ist sie vielen Experten zufolge relativ sicher. Spannend finde ich Sätze zum Ausmaß der Immunisierung wie: „Da liegen wir in Österreich im niedrigen einstelligen Prozentbereich, das heißt, es sind immer noch sehr viele Menschen empfänglich für das Virus.“ Irgendwann werden wir auch diese Prognosen überprüfen können.
In Schweden ist inzwischen das zuvor mathematisch Unmögliche passiert und die Basisreproduktionszahl ebenfalls unter 1 gesunken. Michael Ryan, Nothilfedirektor der Weltgesundheitsorganisation, meinte zuletzt: „Ich denke, wenn wir eine neue Normalität erreichen wollen, ist Schweden ein Vorbild, wie man zu einer Gesellschaft ohne Lockdown zurückkehrt.“ So etwas hören Apokalyptiker natürlich nicht gerne. Sofort wird wieder mit den 2.700 Sterbefällen argumentiert, die ja zeigen, wie unverantwortlich der schwedische Weg war. Und wiederholt werden die folgenden wichtigen Aspekte nicht beachtet. Auch in Schweden betraf fast die Hälfte aller Sterbefälle Bewohner von Alters- und Pflegeheimen. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen beträgt 81 Jahre. In acht Wochen sind in Schweden gleich viel Menschen gestorben wie ansonsten in nicht einmal zehn Tagen, und die Altersverteilung des COVID-19-Sterberisikos entspricht auch in Schweden dem normalen Sterberisiko. Es handelt sich also um eine temporäre Übersterblichkeit in der Bevölkerungsgruppe mit dem höchsten Sterberisiko, den hochbetagten und multimorbiden Menschen. In den nächsten Wochen werden wir deshalb auf EuroMomo auch in Schweden, so wie in den Niederlanden, eine Untersterblichkeit in dieser Altersgruppe sehen. Über das Jahr gerechnet wird 2020 in Bezug auf die Gesamtsterblichkeit auch in Schweden kein besonders auffälliges Jahr sein. Aber wer will schon so eine differenzierte Betrachtung hören. Warum manche unbedingt wollen, dass die schwedische Geschichte böse endet, habe ich noch nie verstanden.
Bevor mir jetzt wieder jemand den Vorwurf macht zu relativieren, wiederhole ich zum gefühlt tausendsten Mal: Diese Pandemie ist eine ernstzunehmende „Freak Wave“ im Erkrankungs- und Sterbegeschehen, verursacht durch ein hochansteckendes und für ältere und chronisch kranke Menschen sehr gefährliches, oft tödliches Virus. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Wir sollten aber auch die eine Million Menschen, darunter viele Kinder, die jährlich an Malaria sterben, zur Kenntnis nehmen. Deren Anzahl könnte aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie noch einmal deutlich steigen. Neben der Malaria gehören weltweit die vermeidbaren Infektionskrankheiten HIV/AIDS, Tuberkulose, Durchfallerkrankungen und bakterielle Lungenentzündungen zu den wichtigsten Gründen für eine eingeschränkte Lebenserwartung und Lebensqualität. Diese Liste an vermeidbaren und gut behandelbaren Gesundheitsrisiken ließe sich beliebig fortsetzen. Der aktuelle Fokus auf die direkten Folgen dieser Pandemie ist verständlich, er sollte aber nicht dazu führen, dass wir alle Nebenwirkungen und Folgeschäden, die indirekt durch die Maßnahmen zur Eindämmung entstehen, aus dem Blickfeld verlieren. Diese entstehen permanent im Gesundheitssystem und allen anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Alle diese Effekte haben kurz- und mittelfristige, ja manchmal sogar lebenslange Folgen.
Als Gesundheitswissenschaftler möchte ich noch etwas klarstellen. Der Virologe Christian Drosten hat zuletzt den Public-Health-Begriff „Präventionsparadox“ verwendet, um die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus zu rechtfertigen. Der Begriff „Präventionsparadox“ wurde Anfang der 1980er Jahre vom britischen Epidemiologen Geoffrey Rose geprägt. Er stellt ein grundlegendes Dilemma der Vorbeugung von Krankheit dar. Die Kernaussage ist: Eine vorbeugende Maßnahme, die für die Gemeinschaft einen hohen Nutzen hat, bringt dem einzelnen Menschen oft nur wenig und führt zu der paradoxen Wahrnehmung, dass die vorbeugende Maßnahme unwirksam war. Drosten stellt zu Recht fest, dass die frühzeitig getroffene Maßnahme des Lockddowns Schlimmeres verhindert hat. Was er aber vollkommen übersieht, ist, dass auch bei so gravierenden Interventionen wie einem Lockdown immer darauf geachtet werden muss, dass der Nutzen größer ist als der Schaden.Die präventive Maßnahme des Lockdowns muss also insgesamt mehr gesundheitlichen Nutzen bringen als dadurch verursachten gesundheitlichen Schaden. Auch wenn eine Gesamtbilanz noch aussteht, ist der gesundheitliche, psychische, soziale und ökonomische Schaden in unseren Gesellschaften enorm und hat die soziale Ungleichheit vergrößert. Was Drosten ebenfalls übersieht, ist, dass es auch bei präventiven Maßnahmen immer auf die richtige Dosis ankommt und darauf, dass das Richtige richtig getan wird. Die präventive Maßnahme des Lockdowns hat ihr Ziel, eine Überlastung der Krankenversorgung zu verhindern, Ende März erreicht. Das Richtige wurde richtig getan, der Nutzen war größer als der Schaden. Eine Erhöhung der Dosis, eine Eskalation der Angst und weitere Verschärfung der präventiven Maßnahmen stand ab Anfang April nicht mehr in Relation zu dem damit erzielten Nutzen. Das Präventionsparadox wurde mit Anfang April ungültig. Mir ist vollkommen klar, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob ich Analysen oder Entscheidungen als Politiker, Wissenschaftler, Journalist, Virologe, oder Bürger kommuniziere und treffe. Trotzdem muss eine gesundheitswissenschaftliche Kritik erlaubt sein.
Die Vergangenheit wird in Zukunft sicher noch oft evaluiert. Blicken wir also nach vorne: Wie geht es weiter? Eines ist sicher, in Bezug auf Viren können wir nie wieder in die alte Gelassenheit zurückkehren. Teilweise finde ich das sogar gut. Die kranken Kinder bei den Großeltern oder im Kindergarten abzugeben, war nie in Ordnung. Auch die fehlende Trennung von Hochrisikopersonen und Personen mit Husten-Schnupfen-Heiserkeit in ärztlichen Wartezimmern und Ambulanzen war schon immer fahrlässig. In Zukunft werden wir in der Virensaison, in der dann auch das neue Coronavirus mit von der Partie ist, umlernen und umorganisieren müssen. Unaufgeregt, sachlich, wissensbasiert, aber auch konsequent. Schon in der Virensaison 2020/2021 werden wir auch in Österreich eine Virusüberwachung bzw. ein Viruswarnsystem brauchen. Ganz unabhängig davon ob SARS-CoV-2 jetzt zweimal oder viermal gefährlicher für ältere oder chronisch kranke Menschen ist als die gewohnten Viren. Im letzten Brief habe ich ja schon kurz beschrieben, wie so etwas ausschauen könnte. In der letzten Woche haben das Team des Complexity Science Hub Vienna, ich und viele andere noch einmal einiges an Hirnschmalz für die Verfeinerung des Risikomanagements aufgewendet.
Die Risikobewertung muss auf Basis von ständig im Hintergrund erhobenen Daten passieren. Nachdem das „wahre“ Infektionsgeschehen unbekannt ist, bleibt nur eine Annäherung. Aktuell basiert die Corona-Ampel auf den positiven Testergebnissen pro 10.000 Einwohner innerhalb der letzten 14 Tage. Das Problem ist, dass es neben den positiv getesteten Personen auch immer Infizierte gibt, die asymptomatisch oder präsymptomatisch sind, aus irgendeinem Grund nicht getestet wurden oder sich trotz Symptomatik einfach nicht gemeldet haben. Aufgrund von Verzögerungen bei der Meldung können die Zahl der neu gemeldeten Fälle und die tatsächliche Zahl der neuen Fälle erheblich voneinander abweichen. Das Institut für Statistik der LMU München hat gemeinsam mit dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und der Universität Stockholm ein statistisches Verfahren entwickelt, das aus den aktuellen Meldedaten die tatsächlichen neuen Fallzahlen schätzt. Nowcasting COVID-19 funktioniert aber nur, wenn bei den gemeldeten Fällen auch der Beginn der Symptome mit erhoben wird, was in Österreich bis dato noch nicht passiert. Daraus kann die Anzahl der tatsächlichen Fälle bis zu zwei Tage vor dem Meldedatum geschätzt werden. Es handelt sich dabei nicht um eine Vorhersage (forecast), sondern um eine Schätzung zum aktuellen Zeitpunkt (nowcast). Aus diesen Daten ebenfalls abgeschätzt werden kann die zeitabhängige Reproduktionszahl R(t).
Auf Basis dieser sehr technischen Risikobewertung muss eine verständliche Risikokommunikation erfolgen. Wir haben uns für ein Ampelsystem entschieden, da sich dieses schon in anderen Bereichen bewährt hat. So wie für eine gute Gesundheitsinformation gibt es auch für die Risikokommunikation Qualitätskriterien. Das Harding-Zentrum für Risikokompetenz erforscht Möglichkeiten, den Menschen ein Gefühl dafür zu geben, wie alltägliche Risiken besser eingeschätzt werden können. Erfolgreiche und korrekte Risikokommunikation ist somit kein Problem des richtigen Tuns, sondern vor allem eine Frage des politischen Wollens. Selbstverständlich kann eine Politik auch immer angstbesetzt sein oder Risiken leugnen. Umso wichtiger ist eine unabhängige Wissenschaft, die Verzerrungen in die eine oder andere Richtung kritisiert und offenlegt. Es braucht aber auch eine gesundheitskompetente Bevölkerung, die fähig ist, Informationen zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. Nicht umsonst ist Bildung einer der wichtigsten Gesundheitsdeterminanten. Ob die drei Farben Grün, Gelb und Rot für die Corona-Ampel ausreichen, muss noch intensiv diskutiert werden. Vieles spricht dafür, aber vieles spricht auch für eine verfeinerte Skala mit den Farbtönen Hell- und Dunkelgrün oder die Farbe Orange.
Ein möglichst korrekte Risikobewertung und eine verständliche Risikokommunikation sind die Grundlagen für ein erfolgreiches Risikomanagement. Ein solches haben wir schon in vielen Bereichen unserer Gesellschaft etabliert und verbessern es ständig. Beispiele sind die Verkehrssicherheit, die Reduktion von Unfallrisiken am Arbeitsplatz oder die Patientensicherheit im Gesundheitssystem. Wie könnte also ein erfolgreiches Risikomanagement in Bezug auf zukünftige Virensaisonen ausschauen?
Das bereits erfolgreiche und inzwischen vergrößerte Frühwarnsystem für die saisonale Grippe wird in Zukunft auch andere Viren detektieren müssen. Dafür braucht es verlässliche Schnelltests für die Sentinelpraxen und andere schlaue Monitoring- und Teststrategien. Viele Regeln können und müssen auf Bundesebene festgelegt werden. Also zum Beispiel, welche Verordnung tritt in Pflegeheimen, Ambulanzen, Ordinationen oder Rehabilitationseinrichtungen in Kraft, wenn die Corona-Ampel Grün, Gelb oder Rot anzeigt. Gleiches gilt für Verordnungen im Bildungs- und Wirtschaftssystem sowie anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Normalerweise dauert der Höhepunkt in der Virensaison nur ein paar Wochen an. Die Kalibrierung der Corona-Ampel muss wissensbasiert und auf Basis von Realdaten angepasst werden. Bei allen Maßnahmen im Modus Rot muss der Nutzen größer sein als der Schaden. Einfach abzustimmen und zu evaluieren ist das nicht. Trotzdem müssen wir es versuchen. Keinesfalls darf es passieren, dass wir mit vollkommen übertriebenen oder fahrlässig untertriebenen, also völlig unausgewogenen, Maßnahmen auf ein Risiko reagieren. Gleiches gilt natürlich auch für den Modus Gelb und Grün.
Einfach wird das nicht. Trotzdem muss es uns gelingen, weil wir, ich wiederhole mich, in Bezug auf Viren nie wieder in die alte Gelassenheit zurückkehren können. Nicht nach der Titulierung dieser Pandemie als „Jahrhundertereignis“ und der damit verbundenen Verankerung in das Gedächtnis unserer Gesellschaft.
So wie in anderen Bereichen sollte die Ausführungsgesetzgebung bei den Ländern liegen. Ob diese dann ein einheitliches Risikomanagement für das gesamte Bundesland, oder wie von uns vorgeschlagen ein regionales Management vorziehen, ist eine politische Entscheidung. Faktum ist, dass jeder Bezirk in Österreich ein Gesundheitsamt hat, mit der gesetzlichen Aufgabe: „die gesundheitlichen Verhältnisse des Bezirkes zu beobachten, die Durchführung der Gesundheitsgesetzgebung zu überwachen; sich auf Erfordern der zuständigen Behörden in Angelegenheiten des Gesundheitswesens gutachtlich zu äußern und ihnen Vorschläge zur Abstellung von Mängeln und zur Förderung der Volksgesundheit zu unterbreiten“. Ob sie dieser Aufgabe gewachsen sind, gilt es abzuwarten. Auf jeden Fall müssen wir in der kommenden Virensaison Erfahrungen sammeln und das wissenschaftliche Know-how in Österreich zu nutzen. Die Umsetzungspläne müssen im realen Leben funktionieren, möglichst einfach und möglichst wirkungsvoll sein.
Damit das gelingt, braucht es einen offenen Diskurs mit allen Beteiligten, das Hinzuziehen von Experten für Kommunikation und Risikomanagement. Die Kunst des miteinander Redens muss wichtiger und effektiver werden. Es ist aber auch eine Chance, gemeinsam aus dieser Krise etwas zu lernen. So wie unser Verhalten in Bezug auf Viren früher zu nachlässig war, ist es jetzt viel zu hysterisch. Wir müssen es gemeinsam schaffen, wieder das richtige Augenmaß zu finden, so wie es uns in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft gelungen ist. Einen unaufgeregten und sachlichen Umgang mit den unvermeidlichen Risiken des Lebens, das wünsche ich mir.
Angesichts der Scheinheiligkeit, mit der aktuell von manchen Politikern, Journalisten und auch Wissenschaftlern argumentiert wird, erlauben Sie mir bitte noch einen abschließenden unwissenschaftlichen Wutausbruch:
„Es zipft mich schon dermaßen an, wie ihr plötzlich alle zu Moralaposteln werdet. Ja, jeder Todesfall ist tragisch, egal ob er in Österreich, Italien, Afrika oder den USA passiert. Aber tut doch bitte nicht so, als ob erst seit dem Jahr 2020 gestorben wird. 250.000 Todesfälle aufgrund dieser Pandemie sind tragisch, aber sind die 1,2 Millionen vorzeitigen Sterbefälle aufgrund von Tuberkulose und eine Million aufgrund von HIV/AIDS nicht auch tragisch? Was ist mit den 5,3 Millionen Kindern, die jedes Jahr vor dem 5. Lebensjahr versterben? Jedes Jahr! Immer und immer wieder! Auf dem Dashboard wären das 14.500 Sterbefälle jeden Tag! Doppelt so viel wie am Höhepunkt der Corona-Pandemie. Hat euch das bisher irgendwie gekümmert? Viele dieser Todesfälle wären vermeidbar gewesen. Hat sich irgendeiner von euch Moralaposteln jemals dazu geäußert? Ich hätte auch gut und gerne auf diese Pandemie verzichtet. Aber euch, die ihr da jetzt so politisch korrekt und pseudoempathisch in diversen Medien herumheuchelt, möchte ich am liebsten laut ins Gesicht schreien: Wo ist eure Empathie, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, wo ist sie, wenn Kinder in Flüchtlingslagern, eine Flugstunde von Österreich entfernt, jämmerlich krepieren? Eure Scheinheiligkeit kotzt mich an!“
Lieber Herr Fleischhacker, bitte streichen Sie diesen Abgesang aus dem Brief, bitte zensurieren Sie mich, ich habe so eine Wut, dass ich mir im Moment selbst keinen Maulkorb oder Mundschutz verpassen kann – sorry! Schützen Sie mich bitte vor mir selbst, ich bin gerade eine verbale Hochrisikoperson – danke!
Ihr Martin Sprenger
Brief von Michael Fleischhacker an Martin Sprenger
Lieber Herr Sprenger,
selbstverständlich streiche ich den kleinen, feinen Wutausbruch am Ende Ihres Briefes nicht, ganz im Gegenteil: Ich denke, genau darum geht es. Ich erlebe es nicht nur an mir, aber auch an vielen anderen, mit denen ich Kontakt habe: Die Menschen sind nicht aufgebracht, weil sie sich nicht um die anderen kümmern wollen, weil sie nur an sich denken, oder weil ihnen die Alten egal sind. Sie sind aufgebracht, weil sie die Bigotterie satthaben, mit der hier seit mehr als einem Monat agiert wird, und wie sehr jede Form von Debatte über unterschiedliche Einschätzungen und Vorgangsweisen von Inszenierungen überdeckt wird, die man kaum anders nennen kann als pseudoreligiös.
Selbst wenn man der Ansicht ist – und auch dafür gibt es natürlich Argumente, fair enough –, dass es auch nach dem 30. März wichtig war, nicht zu früh in den Lockerungsmodus zu gehen: Der glattpolierte Kampagnenmodus, in dem da von der Regierungsbank herunter moralisiert wurde und wird, ist für ein denkendes Gemüt einfach schwer zu ertragen. Dies umso mehr, als die wirklich brisanten ethischen Fragen, die mit so radikalen Maßnahmen wie denen, die wir während der vergangenen zwei Monate erlebt haben, nicht einmal am Rande diskutiert wurden. Jedenfalls nicht von denen, die die Maßnahmen verhängt haben.
Und da rede ich noch gar nicht von den Dingen, die Sie angesprochen haben, von den Millionen Hungertoten, zu deren Errettung niemand einen Lockdown verhängt, bis zu den Millionen Kindern, denen Tag für Tag die Zukunft gestohlen wird, ohne dass es irgendjemanden kümmern würde. Ich rede nur von rechtlich-moralischen Erwägungen, die eigentlich in diesem Land hätten einsetzen müssen, sobald eine Regierung als Reaktion auf eine Bedrohung – und kein vernünftiger Mensch wird bezweifeln, dass die pandemische Ausbreitung des SARS-CoV2-Virus eine ernsthafte Bedrohung dargestellt hat – so drastische Mittel zur Abwehrt der Bedrohung ergreift.
Es gehört zu den vielen Ironien dieser Krise, dass die Floskel „das rettet Menschenleben“ zum Totschlagargument geworden ist. Jeder, der sich jemals ernsthaft mit Fragen der Bioethik beschäftigt hat, weiß, dass es keinen absoluten Lebensschutz gibt. Nicht einmal in Bezug auf den einzelnen Menschen, und schon gar nicht mit Blick auf die Gesellschaft. Immer muss abgewogen werden, ob Maßnahmen, die mit dem Argument des Lebensschutzes in die Grund- und Freiheitsrechte aller eingreifen, gesamtheitlich mehr Nutzen oder Schaden bringen.
In Gesundheitsangelegenheiten haben wir dafür sogar eine Messgröße geschaffen, die bisher kaum jemand in Zweifel gezogen hat: gesunde Lebensmonate. Wenn ich also zur Erhaltung von drei Lebensmonaten für überwiegend alte Menschen mit mehreren Erkrankungen und einer geringen Lebenserwartung Maßnahmen ergreife, die für viele gesunde junge Menschen das Risiko bergen, langfristig zu erkranken, ist das unbedingt auch ethisch zu diskutieren und abzuwägen.
Weil wir anscheinend vergessen haben, dass am Ende des Lebens unweigerlich der Tod kommt, und dass das, wenn man nicht besonderes Glück hat, irgendwann in den hohen 80ern jedem von uns bevorsteht, fällt uns diese Abwägung schwer. Der Tod, das gewöhnlichste Ereignis, das man sich überhaupt vorstellen kann – es gibt nämlich keine einzige Ausnahme, wovon kann man das schon sagen? – scheint für uns so ungewöhnlich geworden zu sein, dass wir zu einer solchen Abwägung nicht mehr fähig sind.
Ich finde, dass der deutsche Anwalt und Schriftsteller Ferdinand von Schirach die Frage, ob man der Rettung von Leben wirklich alles andere unterordnen darf, an einem guten Beispiel illustriert hat: Viele tausende Menschen sterben jährlich bei Autounfällen. Niemand bezweifelt also, dass man mit dem Totalverbot von Automobilen tausende Menschenleben retten könnte, und dennoch wird nicht ernsthaft über ein solches Totalverbot diskutiert.
Wir erleben solche Paradoxien in Bezug auf das absolute Gebot des Lebensschutzes übrigens im Kontext der Corona-Krise nicht zum ersten Mal. Einer der Klassiker in bioethischen Debatten – und wir befinden uns mit der Frage der Angemessenheit der Maßnahmen mitten auf dem Gebiert der Bioethik, von der die österreichische Politik leider noch nie etwas verstanden hat – ist die Frage nach der Zulässigkeit der sogenannten „verbrauchenden“ Embryonenforschung.
In Österreich und in den meisten europäischen Staaten ist es verboten, die kryokonservierten, also in flüssigem Stickstoff eingefrorenen Embryonen, die im Zuge der künstlichen Befruchtung (IVF für In-vitro-Fertilisation) entstehen, die nicht mehr verwendet oder gebraucht werden, in der Stammzellenforschung zu benutzen. Stattdessen werden sie mit dem Krankenhausmüll entfernt. Warum das ethisch eher vertretbar ist, lässt sich nicht leicht argumentieren, hat aber mit der Idee des absoluten Lebensschutzes zu tun. In diesem Fall wird er mit Kants kategorischem Imperativ verknüpft, indem man sagt, es müsse durch die Entsorgung des Embryos im Müll verhindert werden, dass er als Mittel zum Zweck dienen muss. Der Tod im Müll als Sterben in Würde: Bioethik kann sehr paradox sein.
Das sehen wir eben auch in der Corona-Debatte, auch und vor allem am Beispiel Schweden. Die Schweden gehen, vermutlich aus guten Gründen, davon aus, dass sie trotz der höheren Sterbezahlen in der jetzigen Phase am Ende des Jahres keine große Übersterblichkeit sehen werden. Weil nämlich der größere Teil der Schweden, die jetzt an oder mit COVID-19 sterben, im Lauf dieses Jahres aus anderen Gründen gestorben wären. Wenn man sich an der anerkannten Messgröße „gesunde Lebensjahre“ orientiert, ist das meiner Ansicht nach der richtige Zugang.
Wenn man der legitimen Ansicht ist, dass hier und jetzt und mit allen Mitteln, koste es, was es wolle, jeder individuelle Tod so lange hinausgezögert werden muss, wie es nur irgend möglich ist, kann man den schwedischen Weg nur ablehnen. Er nimmt tatsächlich das frühere Sterben vieler alter Menschen in Kauf, um spätere Beeinträchtigungen der physischen, psychischen und sozialen Gesundheit vieler junger Menschen zu verhindern, weil das, nach gesunden Lebensmonaten gerechnet, die günstigere Kalkulation ist. Aber darf man so rechnen? Viele sagen nein, ich denke, man kann gar nicht anders rechnen.
Ich glaube, dass es in den emotionalen Auseinandersetzungen über den schwedischen Weg im Grunde um dieses bioethische Dilemma geht, das bei allen präsent, aber nicht allen bewusst ist. Es ist der Glaubenskrieg zwischen absolutem Lebensschutz und Utilitarismus, der zugleich immer auch ein Kampf zwischen Religion und Politik ist. Ich finde es interessant, dass wir auf der Seite der Lebensschützer so auffallend viele Menschen finden, die sich in allen anderen Belangen als besonders religions- und kirchenkritisch erweisen.
Ach das erinnert mich an die Mutter aller bioethischen Schlachten, die Debatte über die verbrauchende Embryonenforschung: Zu den radikalsten Embryonenschützerinnen, denen das deutsche Embryonenschutzgesetz (man sieht, wie wichtig Begriffe sind: in Österreich heißt es Fortpflanzungsmedizingesetz) nicht streng genug sein könnte, gehörten die Grünen. In der Abtreibungsdebatte, in der es um exakt dieselbe Abwägung zwischen dem Leben eines Embryos (der dann allerdings bereits ein fertiger Mensch ist, und nicht ein Achtzeller), und den Lebensaussichten einer Mutter in schwieriger Lage (oder auch nur einer erfolgreichen Frau mit alternativer Karriereplanung), operierten dieselben Politikerinnen mit der Parole „Mein Bauch gehört mir“.
Ich glaube also, dass die unheimlich brutal geführten Auseinandersetzungen um das schwedische Modell eine Art Stellvertreterkrieg sind, in denen die unterschiedlichen Bekenntnisse ihre Unsicherheiten und Paradoxien in allen Fragen, die sich an der Grenze des Denkbaren zwischen Leben und Tod abspielen, mehr oder weniger bewusst ausagieren.
Und vielleicht tu ich das ja auch.
Herzlich
Ihr Michael Fleischhacker