Studien: Schulschließungen verhinderten womöglich 1,3 Millionen Ansteckungen in den USA — und auch in anderen Ländern waren sie die „bei weitem wirksamste Maßnahme“
Franziska Telser 03 Aug 2020
Ein Forscherteam rund um den Complexity Science Hub in Wien hat in 76 Regionen
analysiert, wie sich bestimmte, nicht medizinische Maßnahmen auf die Reproduktionszahl
des Virus ausgewirkt haben.
Die wirksamste Methode, um das Virus zu verlangsamen, sei die Schließung der Schulen
gewesen. Eine weitere Studie von Wissenschaftlern aus den USA bestätigt diese These.
Die Forscher betonen, dass eine Maßnahme allein nicht genügt. Nur mit einem
ausgeklügelten Mix lasse sich die Reproduktionszahl unter den Grenzwert von eins
senken.
Vieles weiß man erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat. Dazu gehört die Schule. Im
Frühjahr blieben aus Schutz vor dem Coronavirus weltweit Kinder zu Hause. Auch in
Deutschland waren die Schultore über Wochen geschlossen. Zwischen Anfang August und
Mitte September beginnt in den Ländern nun das neue Schuljahr. Es soll wieder Unterricht
geben, aber mit Hygieneregelungen und Vorsichtsmaßnahmen.
Als während des Lockdowns für die Schüler nicht mehr über Wochen, sondern Monate der
Unterricht ausfiel, kochten in der Debatte, wie viel die Schulschließungen überhaupt
bringen, die Emotionen hoch. Viele Eltern mussten Home Office und Kinderbetreuung auf
einmal organisieren. Der digitale Fernunterricht war ein eher schwacher Ersatz für die
regulären Schulstunden. Der Ruf, Kinder wieder in die Schule zu lassen, wurde immer
lauter. Vor allem als Restaurants, Museen oder sogar Schwimmbäder langsam öffneten.
War es also eine richtige Entscheidung, den Unterricht so lange ausfallen zu lassen?
Rechenmodelle eines Forschungsteams rund um den Complexity Sience Hub in Wien, die
noch nicht auf einem sogenannten Preprint Server erschienen sind — also noch kein
Begutachtungsverfahren durchlaufen haben — ergaben nun, dass die Schließungen von
Unis, Kindergärten und Schulen äußerst wirksam waren, um das Infektionsgeschehen
abzumildern.
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben in 76 Regionen Daten über zahlreiche
nicht medizinische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ausgewertet. Dafür haben
sie den Beitrag jeder Vorkehrung zur Reproduktionszahl quantifiziert. Diese gibt an, wie
viele Menschen ein Erkrankter im Durchschnitt ansteckt. Um die Ausbreitung des Virus
einzudämmen, muss der Wert der Reproduktionszahl unter eins liegen.
Geschlossene Restaurants haben die Kurve ebenfalls stark abgeflacht
Ebenfalls sehr wirksam seien die Einschränkungen sozialer Kontakte im privaten und
beruflichen Bereich gewesen. „Darunter fällt zum Beispiel das Schließen von Geschäften
und Restaurants oder Home Office“, schreiben die Autoren. Aber auch die
Reisebeschränkungen, aktive Risikokommunikation oder die Bereitstellung von
Schutzausrüstung hätten geholfen, die Kurve der Neuinfektionen abzuflachen. „Ob wir
Eltern es mögen oder nicht, aber die bei weitem wirksamste Maßnahme ist unserer Studie
zufolge die Schließung von Bildungseinrichtungen“, sagt Studienleiter Peter Klimek.
Dass Schulschließungen das Infektionsgeschehen verlangsamt haben, legt auch eine
Untersuchung aus den USA nahe, die kürzlich im „Journal of the American Medical
Association“ erschienen ist. In ihrer Analyse stellten Forscher fest, dass zwischen dem 9.
März und dem 7. Mai in den Bundesstaaten, die früher die Schulen geschlossen hatten,
deutlich weniger Menschen an dem Virus erkrankten.
Den Schätzungen zufolge sind durch den ausfallenden Unterricht rund 40.000 Leben
gerettet worden — und 1,3 Millionen Menschen weniger infizierten sich mit dem Virus, als
das ohne die Schließungen der Fall gewesen wäre. Die Wissenschaftler weisen allerdings
darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt auch andere Vorkehrungen, wie das Tragen einer
Maske oder die Schließungen von Restaurants Auswirkungen auf die Fallzahlen hatten und
es deshalb schwierig ist, die Wirkungen der Maßnahmen im einzelnen zu bewerten.
Ein cleverer Maßnahmenmix
Solange es keinen Impfstoff gegen das Corona-Virus gibt, braucht es mehrere Strategien,
um die Anzahl der Neuinfektion so niedrig zu halten, dass das Gesundheitssystem nicht
überlastet wird. „Keine Maßnahme allein ist wirksam genug, um die Reproduktionszahl
unter eins zu senken“, sagt Nils Haug vom Complexity Sience Hub, der an der Wiener Studie
mitgeschrieben hat. Die wirksamste Intervention — laut der Untersuchung sind das die
Schulschließungen — hätten die Reproduktionszahl um maximal 0,34 gesenkt. Derzeit
gehen die Autoren davon aus, dass ohne Maßnahmen der R-Wert bei drei liegen würde.
Wichtig sei in der Bekämpfung der Pandemie auch das Timing. Das frühe Tragen eines
Mund-Nasen-Schutzes habe deutlich mehr Wirkung gehabt also das verpflichtende
Maskentragen zu einem späteren Zeitpunkt, schlussfolgern die Wiener Forscher in ihrer
Studie. Auch die Lockdowns seien am effektivsten gewesen, wenn sie frühzeitig verhängt
wurden.
„Die gute Nachricht unserer Studie ist: Es braucht nicht unbedingt derart weitreichende
Maßnahmen, um die Kurve abzuflachen“, sagt Klimek. „Mit der richtigen Kombination
weniger starker Eingriffe kann die Reproduktionszahl ebenfalls erheblich reduziert
werden.“
Um die Aussagekraft ihrer Studie zu verstärken, verwendeten die Wiener Wissenschaftler
vier verschiedene Methoden für die Datenanalyse. Dass diese sehr unterschiedlichen
Ansätze zu ähnlichen Schlussfolgerungen führten, stimme zuversichtlich, dass das Ranking
zuverlässig sei und dass es, sollte die zweite Welle kommen, eine große Entscheidungshilfe
sein könnte.