Und sie wirken doch
Die Bundesregierung hat die gesetzlichen Grundlagen für Ausgangssperren auf den Weg gebracht. Was bringen die Maßnahmen aus Sicht der Wissenschaft?
Von Christoph Seidler
13.04.2021, 23.08 Uhr
Eine Polizeistreife in der kanadischen Provinz Quebec machte an einem Samstagabend Anfang Januar eine ungewöhnliche Entdeckung. Es war gegen 21 Uhr, als die Beamten im beschaulichen Städtchen Sherbrooke eine Frau beobachteten. Sie führte ihren Freund an einer Leine spazieren. Das Paar habe, so hieß es später, gegen die zwischen 20 und 5 Uhr geltende Ausgangssperre protestieren wollen. Diese würde immerhin das Ausführen von Haustieren gestatten. Die Ordnungshüter beeindruckte das wenig. Sie sprachen Bußgelder in Höhe von umgerechnet gut 2500 Euro aus.
Zahlreiche Länder – in Europa zum Beispiel Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande oder Griechenland – haben in der Pandemie Ausgangssperren beschlossen. Ausgestaltet sind die Regeln im Detail meist etwas anders, eine ungewöhnliche Lösung gab es bis Februar zum Beispiel im mittelamerikanischen Panama. Dort durften Männer und Frauen jeweils an verschiedenen Tagen der Woche das Haus verlassen, um Besorgungen zu erledigen.
Aerosolforscher fordern Kurswechsel: »DRINNEN lauert die Gefahr«
Im Normalfall betreffen die Beschränkungen aber nur die Abend- beziehungsweise Nachtstunden. Auch in Deutschland dürften Ausgangsbeschränkungen nach langen Diskussionen wohl bald flächendeckend kommen, wenn die Inzidenzwerte zu hoch liegen. Grundlage wäre das derzeit zwischen Bundesregierung, Parlament und den Ländern in der Diskussion befindliche »Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite«.
In einer dem SPIEGEL am Dienstagmittag vorliegenden Fassung hieß es, durch Ausgangsbeschränkungen »zu regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten« sollten »die Mobilität in den Abendstunden« sowie »bisher stattfindende private Zusammenkünfte im öffentlichen wie auch privaten Raum, denen ein erhebliches Infektionsrisiko zukommt, begrenzt werden«. Konkret geht es um ein Verbot des Aufenthalts »außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft und dem jeweils dazugehörigen befriedeten Besitztum« zwischen 21 und 5 Uhr. Die Zigarettenpause im Garten ist also noch drin.
Aerosolforscher äußern sich kritisch
Doch welche wissenschaftliche Grundlage haben die Einschränkungen eigentlich? In einem offenen Brief haben sich gerade fünf Aerosolforscherinnen und -forscher kritisch zu Ausgangssperren geäußert. Heimliche Treffen in Innenräumen würden »damit nicht verhindert, sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen Anordnungen noch mehr zu entziehen«, so ihr Argument. In der Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, sei nicht das, was die Experten unter Infektionsvermeidung verstünden.
Andererseits lässt sich feststellen, dass im Prinzip jedes Land, das die besonders leicht übertragbare Virusvariante B.1.1.7 in den vergangenen Wochen und Monaten den Griff bekommen hat, zwischenzeitlich irgendeine Form von Ausgangssperren erlassen hatte. Eine genaue Analyse der Wirksamkeit einzelner Maßnahmen ist allerdings nicht einfach, da sich verschiedene Eingriffe in den Pandemieverlauf gegenseitig beeinflussen können.
Die Begründung zum deutschen Gesetzentwurf verweist auf gleich mehrere Studien, die den Sinn von Ausgangssperren belegen sollen. Explizit wird unter anderem eine noch nicht von Fachkollegen begutachtete Übersichtsarbeit eines Teams der University of Oxford aufgeführt. Darin wurde die Wirksamkeit von 17 verschiedenen Maßnahmen in sieben europäischen Ländern während der zweiten Welle der Pandemie untersucht. Das heißt: Damals gab es zwar noch keine gefährlichen Varianten wie B.1.1.7, sehr wohl aber schon zunehmende Maßnahmenmüdigkeit in der Bevölkerung.
Die Forscher kommen bei ihrer Auswertung zu dem Schluss, dass mit nächtlichen Ausgangssperren der R-Wert – das ist die Zahl, wie viele bis dahin Gesunde ein Corona-Infizierter ansteckt – um 10 bis 20 Prozent gesenkt werden kann. Zur Einordnung: Das wäre laut dieser Studie wohl mehr, als sich mit der Schließung aller Bildungseinrichtungen erreichen ließe. Hier liegt die Reduktion des R-Werts den Forschern zufolge bei zehn Prozent oder weniger.
»Als Dauerstrategie nicht zu empfehlen«
»Prinzipiell sind Ausgangsbeschränkungen eine effektive Maßnahme«, sagt auch der Komplexitätsforscher Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien im Gespräch mit dem SPIEGEL. »Es kommt aber darauf an, wie sie umgesetzt werden.« Auch Klimek hat mit Kolleginnen und Kollegen die Wirksamkeit verschiedener Coronamaßnahmen begutachtet. Ein entscheidendes Hilfsmittel waren dabei Mobilitätsdaten. Für Österreich, wo es nächtliche Ausgangsbeschränkungen teils seit vielen Monaten gibt, kam die Gruppe dabei auch zu dem Schluss: »Mit der Sperrstunde hat die Mobilität abgenommen.« Der Effekt, so Klimek, sei in der Stadt übrigens deutlich stärker ausgefallen als auf dem Land. Zu den Gründen, etwa ob die Frage der Polizeidichte dabei eine Rolle spielt, ließe sich aber noch nichts sagen.
Klimek warnt aber auch: Je mehr Anti-Corona-Maßnahmen der Bevölkerung bereits aufgebürdet worden seien, desto weniger brächten zusätzliche Regeln. Außerdem sei zu beachten, dass sich gerade der Effekt besonders strenger Einschränkungen schnell abnutze. »Als Dauerstrategie ist eine Ausgangssperre also nicht zu empfehlen.« Sobald es das Infektionsgeschehen erlaube, sollten wieder weniger starke Eingriffe erfolgen.
Der Gesetzentwurf in der Fassung vom Dienstagmittag gibt das her. Die Ausgangssperre sei »in ihrer Dauer zeitlich begrenzt, solange die Voraussetzungen der Notbremse vorliegen«, heißt es in der Begründung. Außerdem sei das Verlassen der Wohnung »bei Vorliegen triftiger Gründe« gestattet. Diese müssten bei Kontrollen durch die Polizei glaubhaft gemacht werden. Aufgeführt sind dabei zum Beispiel medizinische Notfälle, die Berufsausübung, die Wahrnehmung des Sorge- oder Umgangsrechts oder die Versorgung von Tieren.
Berliner Forscher für »nahezu vollständiges Verbot privater Besuche in Innenräumen«
Eine Forschergruppe um Kai Nagel von der TU Berlin sowie Christof Schütte und Tim Conrad vom Zuse-Institut Berlin spricht sich in der aktuellen Ausgabe des »Modus Covid«-Berichts für ein »nahezu vollständiges Verbot privater Besuche in Innenräumen« aus. Die Wissenschaftler modellieren am Computer, welchen Einfluss verschiedene Seuchenschutzmaßnahmen auf die Verbreitung des Sars-CoV-2-Erregers in Berlin haben. Dabei berücksichtigen sie auch die Effekte durch B.1.1.7. Die für die Hauptstadt errechneten Ergebnisse, so sagt das Team, seien im Grundsatz auf das ganze Land übertragbar.
Nagel und seine Kollegen warnen in ihrem Bericht in deutlichen Worten, dass zusätzliche Coronaregeln notwendig seien, um eine massive Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden. Die Beschränkungen vom Januar würden nicht ausreichen, »um B.1.1.7 zu kontrollieren und damit den R-Wert unter 1 zu drücken bzw. zu halten«. Weitere, schnell wirksame Einschränkungen seien daher bei der Arbeit in Mehrpersonenbüros (FFP2-Masken auch am Arbeitsplatz, falls Einzelbüro/Homeoffice nicht möglich) und bei privaten Besuchen in Innenräumen (keine Zusammenkünfte im Privaten mit haushaltsfremden Personen zwischen 21 und 5 Uhr oder gar rund um die Uhr) nötig.
Das heißt: Auch diese Forscher sprechen sich für Ausgangsbeschränkungen aus. Nicht weil man beim Spaziergang mit dem Hund zur Virenschleuder wird, sondern weil mancher Weg eben doch zu Freunden oder Verwandten führt. Und wer die in Innenräumen ohne Maske trifft, hat eben ein massiv erhöhtes Infektionsrisiko. Die Ausgangssperre wäre also ein Mittel zum Zweck, um das zu verhindern.
Die Politik müsse »dringend kommunizieren«, dass im Hinblick auf B.1.1.7 »jeglicher ungeschützter Kontakt außerhalb des eigenen Haushalts in Innenräumen nicht mehr akzeptabel ist«, hatte Nagel dem SPIEGEL bereits im März gesagt. Das neue Gesetz tut nun, unter anderem, genau das – zumindest solange die Regelungen zu den Ausgangsbeschränkungen in den Diskussionen im Parlament und mit den Ländern nicht wieder aus dem Text fliegen.
Vielleicht aber noch einmal ein Wort zur kanadischen Provinz Quebec. In einem noch nicht begutachteten Manuskript haben Forscher gerade den Effekt der dortigen Ausgangssperren im Januar analysiert. Als Vergleichsgröße diente die benachbarte Provinz Ontario, wo es keine Einschränkungen gab. Dabei zeigte sich, dass die nächtliche Mobilität bei den Frankokanadiern um immerhin ein Drittel sank. Trotz der Sache mit dem Mann an der Leine.