Schule in der Pandemie – darauf kommt es an

 

 

Zum Start ins neue Schuljahr wird zum Teil heftig gestritten: Wie kann der Unterricht aussehen, wie viel Normalität ist möglich? Wie groß ist die Not bei den Lehrern? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

 

 

Von Armin Himmelrath

04.08.2020, 18.16 Uhr

 

 

Keine Frage, der Frust bei vielen Eltern ist hoch, die Nerven liegen blank: Wann fängt endlich wieder so etwas wie ein normaler Schulalltag an? Wann kann ich mich wieder auf einen geregelten Rhythmus mit geregelten Unterrichtszeiten einstellen?

Die bittere Antwort lautet: auf längere Sicht wohl erst einmal nicht. Denn die Kultusminister wollen zwar so bald und so schnell wie möglich zum flächendeckenden, umfassenden Präsenzunterricht in der Schule zurück – aber dieses Vorhaben steht unter so vielen Vorbehalten, dass die Wahrscheinlichkeit für ein normales Schuljahr 2020/21 verschwindend gering ist.

Trotzdem gilt jetzt, während die Bundesländer nach und nach aus den Sommerferien zurückkehren, erst einmal das Motto: Wir versuchen es mit einem Regel- oder Normalbetrieb in den Schulen – so weit das möglich ist.

Was heißt Regel- oder Normalbetrieb?

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Der Begriff steht im weitesten Sinn für einen Schulalltag, wie er vor der Pandemie üblich war: täglicher Unterricht, die vertrauten Klassen- und Kursgruppen, ein geregelter Schulalltag mit Unterricht und Pausen, der sich an der Stundentafel und dem Curriculum der einzelnen Fächer orientiert.

Einen solchen Regelbetrieb, da sind sich fast alle Expertinnen und Experten einig, wird es auf längere Sicht erst einmal nicht geben – weshalb die Verantwortlichen auch jedes Mal einschränken: “…sofern es das Infektionsgeschehen zulässt”. Schulministerien sprechen beim Blick auf das kommende Schuljahr deshalb auch gern von einem “angepassten Schulbetrieb”.

Wie diese Anpassungen aussehen – ob beispielsweise gestaffelte Anfangszeiten für unterschiedliche Klassen eingeführt werden, Stunden im Freien stattfinden oder die gemeinsam unterrichteten Gruppen verkleinert werden – hängt dabei von zwei Faktoren ab: von der lokalen und regionalen Infektionssituation – und von den schulpolitischen Vorgaben des jeweiligen Bundeslandes.

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Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat zwar ein gemeinsames Hygienekonzept für den Schulbetrieb beschlossen. Das ist jedoch bewusst unscharf und zahnlos formuliert, damit die Bundesländer jeweils ihre eigenen Vorstellungen vom Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen umsetzen können.

Was spricht für Regelunterricht?

Die Befürworter einer möglichst weitgehenden Öffnung der Schulen führen vor allem drei Argumente an: das Recht der Kinder auf Bildung und die damit zusammenhängende Bildungsgerechtigkeit, bisher gemachte Erfahrungen mit Unterricht ohne Abstandsgebot und nicht zuletzt den Leidensdruck der Eltern nach monatelangem Unterricht auf Distanz.

Dass die wochen- und monatelange Schließung der Schulen zu Wissenslücken bei Kindern und Jugendlichen geführt hat, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, dass einzelne Kinder zurückfallen und dass dadurch bereits bestehende Bildungsungerechtigkeiten weiter verstärkt werden. Experten haben außerdem auch immer wieder darauf hingewiesen, wie stark die psychische Belastung für Kinder durch die Krise ist – und dass diese Belastung in der öffentlichen Debatte kaum berücksichtigt wurde.

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Bei Plädoyers für den Unterricht in den gewohnten Klassen und Lerngruppen wird oft auf Erfahrungen in Sachsen verwiesen. Der Freistaat hatte sich als Erstes vom Abstandsgebot in den Schulen verabschiedet. Auch einer aktuellen Studie aus Australien zufolge besteht in Schulen und Kitas keine erhöhte Ansteckungsgefahr – selbst dann, wenn Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte bereits infiziert waren und dennoch die Einrichtung besucht hatten.

Hinzu kommt außerdem der Leidensdruck vieler Eltern: Sie haben keine Kraft und oft auch keine Lust mehr, die seit März anhaltende Mehrfachbelastung als häusliche Lehrkraft, Dauer-Entertainer, Vater oder Mutter und oft auch noch als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer weiterhin zu stemmen. Ihre oft gestellte Frage: Wann übernimmt der Staat endlich wieder seine Aufgaben? Schulpflicht, so das Argument, sei schließlich keine Einbahnstraße, sondern bedeute Pflichten für beide Seiten – die Familien und die Schulen.

Was spricht dagegen?

Vor allem die zahlreichen Unwägbarkeiten, unter denen Unterricht derzeit nur stattfinden kann: Jede Infektion vor Ort kann dazu führen, dass das Gesundheitsamt einzelne Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte in Quarantäne schickt – oder möglicherweise auch ganze Klassen oder Schulen zumacht.

Solche Schließungen sind jederzeit kurzfristig und dann auch für mehrere Wochen möglich, wie unter anderem die Fälle in GüterslohGöttingen und Magdeburg gezeigt haben. Schulen müssten demnach gewissermaßen aus dem Stand heraus in der Lage dazu sein, von Präsenz- wieder auf Distanzlernen umzuschalten – ein enormer technischer und organisatorischer Aufwand.

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Der wäre auch nicht geringer, wenn es nur um Teilschließungen mit verkleinerten Lerngruppen geht. Denn dann muss nicht nur auf einen ganz anderen Stundenplan umgestellt werden, auch der Personal- und Raumbedarf steigt in einem solchen Fall rapide an.

Ebenfalls ein Argument: die Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer und aller anderen Beschäftigten in den Schulen. Vor allem die Gewerkschaften fordern bessere Schutzmaßnahmen für die Lehrkräfte und verweisen auf die unklare Studienlage zum Infektionsrisiko beim Unterricht in den Klassen.

Wie groß ist das Ansteckungsrisiko in Schulen?

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu sind bisher nicht eindeutig. Es gibt sowohl Studien, die geöffneten Schulen ein Unbedenklichkeitszeugnis ausstellen, als auch solche, nach deren Ergebnissen geschlossene Schulen eine der wirksamsten Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung darstellen.

So stellt der Statistiker Peter Klimek im Hinblick auf die Unterbrechung von Infektionsketten fest: “Schulschließungen sind extrem wirksam.” Klimeks Forschungsteam hatte in 76 Ländern und Territorien die Pandemieentwicklung statistisch ausgewertet und die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen überprüft. Und nach einer weiteren Untersuchung aus den USA haben die Schulschließungen dort mehr als 40.000 Menschen das Leben gerettet und über 1,3 Millionen Ansteckungen verhindert – Zahlen, die Klimek für absolut plausibel hält.

Andererseits gibt es – neben der oben bereits erwähnten Studie aus Australien – Studien der Universitätskliniken in Leipzig und Dresden, die bei Untersuchungen an Schulen in Sachsen keine gehäuften Infektionszahlen nachweisen konnten. Die Öffnung von Schulen produziert demnach keine Corona-Hotspots, das sächsische Kultusministerium fühlt sich in seiner Politik der schnellen Wiederaufnahme des Unterrichts im Klassenverband bestätigt.

Was heißt das für Lehrerinnen und Lehrer?

Alle Lehrkräfte können zunächst davon ausgehen, dass es an ihrer Schule nach den Sommerferien zumindest den Versuch geben wird, in einen halbwegs normalen Schulalltag zurückzufinden. Wie gut das gelingt, hängt von vielen Faktoren ab.

Womit Lehrerinnen und Lehrer auf jeden Fall rechnen sollten:

  • Mehrarbeit: Voraussichtlich wird es neben dem Präsenzunterricht in vielen Fällen auch Bedarf an parallel angebotenem Distanzunterricht geben. Das betrifft beispielsweise Kinder, die wegen des Risikos eines schweren Covid-19-Verlaufs die Schule dauerhaft nicht besuchen können.
  • Aufgabenerweiterungen: Erwartet wird die Kontrolle und Durchsetzung der Hygieneregeln wie beispielsweise der Maskenpflicht. So heißt es im Hygienekonzept des baden-württembergischen Kultusministeriums, dass die Lehrkräfte unter anderem in den Pausen dafür sorgen sollen, dass die Schultoiletten immer nur von einer begrenzten Anzahl Schülerinnen und Schüler aufgesucht werden. Und auch an den Bushaltestellen im unmittelbaren Umfeld der Schulen sollen die Lehrerinnen und Lehrer demnach auf die Einhaltung der Abstandsregeln achten.
  • Unregelmäßigkeiten: Durch lokale Infektionen, aber auch durch versetzte Anfangszeiten und andere organisatorische Anpassungen wird den Lehrkräften im Alltag deutlich mehr Flexibilität abverlangt.
  • Krankschreibungen: Zu Beginn der Coronakrise reichte es in den meisten Bundesländern, wenn Lehrkräfte erklärten, dass sie zu einer Risikogruppe gehörten, um vom Präsenzunterricht befreit zu werden. Diese Regelungen wurden mittlerweile gekippt, die Landesregierungen haben die Kriterien deutlich verschärft. Jetzt ist überall ein entsprechendes ärztliches Attest notwendig – und im Zweifelsfall kann auch eine Überprüfung durch den Amtsarzt erfolgen.

Wie viele Lehrer gehören zu Risikogruppen?

Die Schätzungen darüber gehen weit auseinander: von unter zehn Prozent bis zu knapp einem Drittel aller Lehrkräfte. Belastbare bundesweite Zahlen dazu, wie viele Lehrerinnen und Lehrer über 60 Jahre alt sind und/oder Vorerkrankungen haben, gibt es nicht, wohl aber verschiedene Erfahrungswerte.

So liegt der Krankenstand bei Lehrkräften in den meisten Bundesländern in Nichtkrisenzeiten bei rund sieben bis acht Prozent der Beschäftigten. Eine Erhebung des NRW-Schulministeriums in der letzten Schulwoche vor den Sommerferien ergab, dass Ende Juni rund 15 Prozent der Lehrkräfte im Land krankgeschrieben waren – doppelt so viele wie sonst. Dieser Stand war mutmaßlich durch Corona-bedingte Ausfälle verursacht.

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Hinzu kommt, dass sich der Altersdurchschnitt der Kollegien von Schule zu Schule stark unterscheiden kann – was erhebliche Auswirkungen darauf hat, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die aus gesundheitlichen Gründen keinen Präsenzunterricht erteilen können. Etliche Bundesländer haben in den vergangenen Wochen Programme aufgelegt, mit denen zusätzliche Planstellen für besonders betroffene Schulen besetzt werden können. Das Problem: Der Arbeitsmarkt für Lehrerinnen und Lehrer ist ziemlich leer, die Anwerbung schwierig.

Wie groß ist der Lehrermangel generell?

Es gibt verschiedene Prognosen und Studien dazu. Alle sind sich einig darüber, dass aktuell und in den kommenden Jahren deutschlandweit Zehntausende Lehrerinnen und Lehrer fehlen – wenn auch nicht an allen Schulformen der Bedarf gleich groß ist. So sind Gymnasien deutlich seltener vom Fachkräftemangel betroffen als andere Schulformen.

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Die KMK rechnet in ihrer aktuellen Prognose bereits bis 2023 mit 12.400 fehlenden Lehrerinnen und Lehrern allein an Grundschulen; Berufs-, Haupt- und Realschulen müssen sich demnach sogar bis 2030 auf einen dauerhaften Bewerbermangel einstellen. Die Bertelsmann Stiftung dagegen wirft der KMK vor, unrealistische Zahlen zugrunde zu legen, und schätzt den Bedarf weit höher ein: Sie rechnet bis zum Jahr 2025 mit mindestens fehlenden 26.300 Lehrkräften an Deutschlands Grundschulen.

Eine Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) unter 1300 Schulleitungen aller Schulformen hatte zuletzt ergeben, dass der Lehrermangel von mehr als der Hälfte der Befragten als derzeit wichtigstes Problem gesehen wird. Deutlich mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, sie hätten im vergangenen Jahr konkret mit Lehrkräftemangel und unbesetzten Stellen zu kämpfen gehabt.

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Warum gibt es keinen zentralen Masterplan für die Schulen?

Weil Schulpolitik Ländersache ist – und damit eines der wenigen Politikfelder, bei denen der Bund den Ländern so gut wie gar nicht hineinreden darf. Diesen Status verteidigen die Bundesländer auch vehement – was in der Coronakrise dazu führte, dass Beschlüsse der Kultusministerkonferenz zum gemeinsamen Vorgehen in der Schulpolitik entweder ziemlich unverbindlich formuliert wurden oder aber von den auf Profilierung bedachten Ländern schnell unterlaufen wurden.