Sieben Argumente gegen die Inzidenz
Pandemie. Die kritische Grenze für positive Tests im Siebentagesschnitt war von Anfang an beliebig gewählt, galt aber zumindest als Richtwert für die Einschätzung der Lage – mittlerweile taugt sie auch dazu kaum noch.
VON KOKSAL BALTACI
Wien. Irgendwann im Frühjahr 2020 tauchte sie zum ersten Mal in Deutschland auf – die Sieben[1]Tage-Inzidenz, also die Zahl der positiven Tests pro 100.000 Ein[1wohner innerhalb der vergangenen sieben Tage. Liegt sie unter 50, ist alles im grünen Bereich und die Grundregeln wie Händehygiene, Abstandhalten sowie Masketragen genügen, weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung sind nicht notwendig.
Als Grundlage für die Definition dieses Grenzwerts dienten die Kapazitäten für das Contact Tracing sowie auf den Intensivstationen. In den Monaten danach hat sich die 50er-Inzidenz”, aus der Anfang dieses lahres mangels Erreichbarkeit die lOOer-Inzidenz” wurde, rasch verselbstständigt, gilt immer noch in vielen Ländern als kritischer Wert und dient als Grundlage für Verordnungen, auch in Österreich. Dabei birgt sie eine Reihe von Unschärfen.
1 Die Zahl der Intensivbetten pro 100.000 Einwohner variiert europaweit stark. An der Spitze liegt Deutschland mit 33,3 Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern, gefolgt von Österreich mit 28,9. Der OECD-Schnitt beträgt 15,9. Schlusslichter sind Italien mit 8,6, Dänemark mit 7,8 und Irland mit 5,0. Auch die Ausstattung (etwa mit Beatmungsgeräten) sowie das Know-how der Mediziner auf Intensivstationen sind innerhalb Europas und sogar innerhalb mancher Länder selbst nicht auf demselben Niveau.
2 Große Unterschiede gibt es auch bei den personellen und technischen Ressourcen, um effizientes Contact Tracing zu betreiben. Zudem hängt der Aufwand für das Ermitteln, Testen und gegebenenfalls Isolieren der Kontaktpersonen von Betroffenen in hohem Maß von den Lebensumständen der Infizierten sowie deren Wohnort ab. Die Kontakte von jemandem aus einer Großstadt wie Wien, der etwa aus beruflichen Gründen mit Dutzenden Menschen zu tun hatte, sind zumeist deutlich schwieriger aus[1]findig zu machen als von jemandem aus einer kleinen Gemeinde mit weniger Kontaktpersonen.
3 Nach den Erfahrungen und Erkenntnissen der vergangenen Monate bekommen bei Weitem nicht mehr alle schwer erkrankten Covid-19-Patienten ein Intensivbett – dann nämlich, wenn keine klinische Erfolgsaussicht” besteht, wenn also die Entwöhnung vom Beatmungsgerät unwahrscheinlich ist. Nicht wenige Betroffene sterben also in gewöhnlichen Spitalsbetten oder auch zu Hause. Das heißt natürlich nicht, dass die Erfolgsaussicht bei den Patienten zunächst gar nicht berücksichtigt wurde, aber die Zahl der Intensivbetten hat jedenfalls nicht mehr dieselbe Bedeutung wie zu Beginn der Pandemie.
4 Differenziert werden muss auch hinsichtlich des zu erwartenden Krankheitsverlaufs bei positiv Getesteten. Bei älteren oder vorerkrankten Menschen ist das Risiko, schwer zu erkranken, um ein Vielfaches höher. Im Schnitt landet eine von 100 infizierten Personen auf der Intensivstation – mit großen Unterschieden innerhalb der Altersgruppen. Das trifft auch auf die Sterblichkeit zu. So liegt dem Robert-Koch-Institut zufolge der Anteil der Verstorbenen unter Erkrankten bis etwa 50 Jahren unter 0,1 Prozent, steigt aber ab 50 Jahren stark an und liegt bei Personen, die älter sind als 80 Jahre, bei mehr als zehn Prozent.
5 Fast zwei Millionen Menschen erhielten in Österreich bisher ihre erste Impfung, 750.000 von ihnen auch schon die zweite. Weitere 550.000 sind bereits genesen, inklusive Dunkelziffer dürfte diese Zahl dreimal so hoch sein. Rund 3,5 Mio. Menschen sind also zumindest teilweise immunisiert – ein Umstand, der in der Sieben-Tage-Inzidenz nicht vorkommt. Sie wurde nämlich definiert, als die Durchseuchung in der Bevölkerung gering und Impfstoffe noch in weiter Ferne waren. Die Durchimpfungsraten sind mittlerweile insbesondere bei älteren und pflegebedürftigen Menschen sehr hoch, was sich positiv auf die Auslastung in Intensivstationen auswirkt, weil bei ihnen schwere Verläufe weitgehend verhindert werden.
6 Die in Österreich verfolgten unterschiedlichen Teststrategien – diagnostisches Testen nach Symptomen, Testen von Kontaktpersonen, Teststraßen, Apotheken, Selbsttests inklusive Gurgeltests, Betriebstests, Schultests – werden in der Sieben-Tage-Inzidenz ebenfalls nicht abgebildet, was ihre Interpretation erschwert. Durch die Schultests beispielsweise werden viele asymptomatische Infizierte gefunden, dadurch sinkt aber zum einen die Dunkelziffer und zum anderen werden mögliche Infektionsketten unterbrochen. Eine Inzidenz, die durch solche Tests in die Höhe getrieben wird, ist also nicht nur besorgniserregend, sondern muss differenziert betrachtet werden – wie etwa der Vergleich mit Deutschland verdeutlicht. Dort werden die Maßnahmen schon bei niedrigeren Inzidenzen verschärft, weil deutlich weniger getestet und somit von einer höheren Dunkelziffer ausgegangen wird.
7 Die Sieben-Tage-Inzidenz gibt keinerlei Auskunft über die Verbreitung neuer Varianten. Dabei wird im kommenden Herbst und Winter insbesondere dieser Faktor eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, sogenannte Fluchtmutanten rechtzeitig zu entdecken und entsprechende Maßnahmen zu setzen. Gegen Viren mit einer Fluchtmutation sind die Impfstoffe weniger wirksam, zudem kann es leichter zu Reinfektionen kommen. Die derzeit in Tirol grassierende Variante mit der Mutation E484K ist eine solche.
Neue Richtwerte gefordert
Es ist ganz klar, dass die Sieben-Tage-Inzidenz allein nicht ausreicht, um die epidemiologische Lage zu beurteilen”, sagt Komplexitätsforscher Peter Klimek von der Med-Uni Wien. Die Pandemie hat mehr als eine Dimension und braucht daher mehrere Kennzahlen. Die Entwicklung in den Spitälern ist dabei ebenso relevant wie die Positivitätsrate bei den Tests – und zwar aufgeschlüsselt nach PCR- und Antigentests. Was wir außerdem brauchten, ist eine Unterteilung der Sieben-Tage-Inzi[1]denz danach, über welche Test[1]schiene wie viele Infektionen ge[1]funden werden. Aber dazu fehlen uns wieder einmal die Daten.”
Eine aussagekräftige Sieben-Tage-Inzidenz müsse künftig das Alter der Infizierten berücksichtigen, sagt Bernd Lamprecht, Vorstand der Klinik für Lungenheilkunde am Linzer Kepler-Universitätsklinikum. Ein solcher Parameter wäre im Herbst und Winter, wenn die Zahl der Neuinfektionen wegen etwaiger Nachlässigkeiten bei den Auffrischungen und neuer Varianten wieder steigt, sinnvoller, um die Ausbreitung des Virus zu beobachten und daraus Entscheidungen bezüglich Teststrategie und Schutz der vulnerablen Gruppen abzuleiten.” Darüber hinaus müsse man auch die Dynamik auf den Intensivstationen genauer beobachten – also nicht nur die absolute Zahl der mit Covid-19-Patienten belegten Betten, sondern vor allem auch die Zu- und Abgänge. Dabei sollten nach Möglichkeit die Regionen dokumentiert werden, aus denen die Patienten kommen, um treffsichere örtlich begrenzte Vorkehrungen zu treffen.
Auf den Faktor Zeit hinsichtlich neuer Maßnahmen weist auch der Epidemiologe Gerald Gartlehner hin, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Uni Krems. Für ihn bleibt zwar die Auslastung der Intensivkapazitäten der wichtigste Parameter, weil es einen gesellschaftlichen Konsens” gebe, dass das Gesundheitssystem nicht kollabieren darf. Aber zu warten, bis die Intensivstationen voll sind, um dann zu reagieren, wäre sicher auch falsch”. Die Sieben-Tage-Inzidenz ( die nie datengestützt war
und mit dem Fortschritt bei den Impfungen eine andere Relevanz
hat als noch vor einigen Monaten”) sei dafür aber zumindest ein Indikator. Wenn sie sich ändert, bildet sich das in zwei bis drei Wochen
auch auf den Intensivstationen ab.”