Von Peter Klimek
Die sich selbst erfüllende Pandemie
Über Coronawellen, Erwartungen und wie sie unsere Wirklichkeit beeinflussen.
Mit seinem Werk prägte Paul Watzlawick konstruktivistische Denkansätze bis heute entscheidend mit. Einer seiner bekanntesten Beiträge behandelt die Rolle sich selbst erfüllender Prophezeiungen: self-fulfilling prophecies (SFP). Vereinfacht gesagt beeinflussen demnach unsere Erwartungen unser Handeln, was das Eintreten dieser Erwartungen begünstigt. Wir konstruieren also unsere Wirklichkeit anhand von Erwartungen, die sich durch die Erwartungen selbst erfüllen.
Bis zu einem gewissen Grad trifft das auch auf unseren Umgang mit der Pandemie zu. Nein, es geht hier nicht um Verschwörungstheorien, die Pandemie sei konstruiert. Vielmehr haben wir uns wie[1]der und wieder um Möglichkeiten beraubt, Infektionswellen effektiver und weniger invasiv einzudämmen, als wir es letztlich tun mussten, weil wir nicht an diese Möglichkeiten geglaubt haben. Dies sei anhand dreier Beispiele dargestellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
“Die Maßnahmen bringen nichts”
Die erste SFP betrifft die Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Interventionen zur Eindämmung der Virusausbreitung, die vielzitierten Maßnahmen”. Wie oft wurde uns im vorigen Jahr gesagt, dass Lockdowns nicht wirken, weil sich niemand mehr daran hält, oder dass das Maskentragen nichts bringt, weil wir diese nicht fachgerecht aufsetzen? Insbesondere während der ersten Infektionswelle hat die wissenschaftliche Evidenz dieser Logik deutlich widersprochen: Lockdowns wirkten und Masken haben erwiesenermaßen viele Menschenleben gerettet. Es hat auch ein Großteil der Bevölkerung die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen eingesehen und sie mitgetragen.
Zwar war zu beobachten, dass die Wirksamkeit der Maßnahmen von Welle zu Welle abnahm, doch dies geschah umso schneller, je mehr das Vertrauen abnahm, dass, wenn ich mich an die Maßnahmen halte, meine Nachbarn, Kollegen und Freunde dies ebenfalls tun. Tatsächlich versicherten wir uns in Österreich spätestens ab dem Herbst 2020 ständig gegenseitig – und hörten es immer öfter auch vonseiten der Politik -, dass sich niemand mehr an Maßnahmen hält”. Und während die Alpha-Variante die Intensivstationen überrollte, kündigte Wien an, die Schanigärten zu öffnen? Mit derartigen Aktionen wurde das Vertrauen der Menschen in die Wirksamkeit von Maßnahmen untergraben, womit sie dann auch tatsächlich messbar abnahm. Als infektiösere Varianten kamen, blieb keine andere Wahl, als die immer weniger wirksamen Maßnahmen immer weiter zu eskalieren. Dem widmen sich mittlerweile auch erste Studien. Der Vergleich mit Ländern, in denen das nicht passierte, und in denen das zwischenmenschliche Vertrauen deutlich höher ist als bei uns, zeigt dabei klar: Diese Abwärtsspirale haben wir uns selbst konstruiert. Sie war keine epidemiologische Notwendigkeit.
“Elimination ist keine Option”
Eine zweite SFP ist die Exitstrategie zur Pandemie. Bereits zu Beginn wurde uns gesagt, dass wir das Virus nur mit einer Impfung besiegen können. Bis ein entsprechender Impfstoff entwickelt sei, bliebe nur eine Strategie der Eindämmung und Abflachung der Kurve. Infektionszahlen mit sehr strikten Maßnahmen dauerhaft auf null zu drücken, sei nur eine Option für Inseln oder autoritäre Staaten. An eine Eliminierung – also die Auslöschung des Virus – wurde nie geglaubt.
Regierungen weltweit beließen es bei dem Versuch, das Virus lediglich zu kontrollieren. Zwischendurch strebten einige Länder Herdenimmunität durch Infektionen an, und so stieg die globale Zirkulation des Virus stetig und brachte immer ansteckendere Varianten hervor. Kaum war eine Welle vorbei, breitete sich schon die nächste Variante global aus. Die infektiöseren Varianten zwangen uns zu immer längeren Lockdowns. Die Ursprungsvariante hatten wir dadurch übrigens lang vor der Impfung eliminiert – ganz ohne eine Insel oder ein autoritärer Staat zu werden.
Wie wäre die Pandemie wohl verlaufen, hätten wir auch in Europa eine Eliminierung des ursprünglichen Virus von Anfang an für möglich gehalten und international-koordiniert angestrebt? Stattdessen haben wir eine Wirklichkeit nicht nur für uns selbst konstruiert, sondern auch für alle anderen Länder. Vor allem Australien und Neuseeland stehen vor den Trümmern ihrer erfolgreichen Eliminierungsstrategien: Die Delta-Variante ist anscheinend so ansteckend, dass Lockdowns bei geringer Impfquote zur Kontrolle der Virusausbreitung nicht mehr reichen (oder hält sich dort mittlerweile auch niemand mehr an die Maßnahmen?). Die dritte SFP, die ich erwähnenswert finde, ist unsere Unfähigkeit, eine logistische Kontrolle über die Pandemie mit Hilfe digitaler und datenbasierter Lösungen zu erlangen.
“Wir können Digitalisierung nicht”
In anderen – hauptsächlich südostasiatischen – Ländern wird die Kontaktverfolgung und Einhaltung der Quarantäne über Smartphones überprüft. Kreditkartenabrechnungen und Bankomatzahlungen helfen dabei, potenzielle Ansteckungsorte zu rekonstruieren. Bürger bekommen Informationen zu Schutzmaßnahmen von offiziellen Stellen direkt und leicht zugänglich in ihre Nachrichtenfeeds oder eigens entwickelte Apps geliefert, die die Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglichen und gleichzeitig das Risiko reduzieren, dass die Menschen Covid-Informationen nur aus fragwürdigen Quellen beziehen.
Für manche hört sich das nach einer Orwell’schen Dystopie an. Doch die österreichische Lösung – Zusammenkünfte ganz zu verbieten und Freizeit-, Kultureinrichtungen und Gastronomie monatelang zu schließen – war ebenfalls eine massive Einschränkung persönlicher Freiheiten, und für bestimmte Services mit unseren Daten bezahlen zu müssen, kannten wir schon vor der Pandemie (oder wie viele Jö-Punkte haben Sie?).
Apropos österreichische Lösungen: Der Start war ja durchaus ambitioniert, siehe Contact-Tracing-App des Roten Kreuzes. Nur, dass die Funktionsweise von Smartphones einen einfachen digitalen Handshake eben nicht ermöglicht?
Eines der wenigen erfolgreichen Digitalisierungsprojekte bleibt somit die Einführung des E-Impfpasses. Für die, wie Stefan Thurner so treffend bemerkt hat, mehr Zeit eingeplant war, als die USA für das gesamte Projekt Mondlandung benötigt haben.
Wieso können” wir Digitalisierung und die Bereitstellung der dafür notwendigen Dateninfrastruktur in Österreich nicht? Eine mögliche Antwort ist, dass viele Personen in hohen Funktionen wissen”, dass wir das in Österreich nicht können – SFP!
Ein Beispiel: Seit Beginn der Pandemie setzen sich Forschende dafür ein, unterschiedliche Datensätze miteinander zu verknüpfen, um das Infektionsgeschehen besser verstehen zu lernen. Welche Berufsgruppen stecken sich besonders häufig an? Wie viele in diesen Berufsgruppen sind geimpft? Wie viele landen mit einer Infektion im Spital? Nach wie vor gibt es in Österreich viele solcher elementaren Informationen nicht, jedenfalls nicht für unabhängig Forschende.
Das hat nicht nur mit Datenschutz zu tun – in vielen anderen europäischen Ländern sind solche Verknüpfungen gang und gäbe. Vielmehr vertreten einige Entscheidungsträger die Ansicht, dass es schlichtweg nicht hilfreich ist, Forschende Daten nutzen und verknüpfen zu lassen, da diese keine Erfahrung im Umgang, mit den Limitationen und Interpretation dieser Informationen hätten.
Dieses Argument mag einen wahren Kern haben, greift aber dennoch zu kurz. Denn weshalb fehlt diese Erfahrung? Weil die Entwicklung der dafür notwendigen Kompetenzen schon im Ansatz erstickt wird.
Forschungsinstitute können keine Kompetenz im Arbeiten mit Daten aufbauen, wenn sie für Forschungszwecke keine Daten bekommen, Studierende keine Digitalisierungskompetenz entwickeln, wenn sie sich nur an Daten-fernen Fragestellungen abarbeiten. Und dann wundern sich Ministerien und deren ausgelagerte Stellen beim Rekrutieren, wenn sie niemanden mit den entsprechenden Skills finden, und ein Digitalisierungsmurks folgt dem nächsten. Die gute Nachricht ist – und damit komme ich wieder zurück zu Watzlawick: Solche Kreisläufe können durchbrochen werden. Hier ein paar neue SFPs: Eindämmungsmaßnahmen wirken. Elimination kann sehr wohl eine Pandemie-Option sein. Und wir schaffen Digitalisierung! Wenn wir daran glauben, wird es viel einfacher werden, eine nächste Pandemie zu bewältigen.