Auf dem Weg zum neuen Weltbild
Seit Anbeginn der Geschichte können wir Komplexität nicht verstehen und beherrschen, sondern sind gezwungen, mit ihr zu leben und uns zu arrangieren. Aber das muss nicht so bleiben. Big Data ändert gerade alles auch für die Wissenschaft.
Von Stefan Thurner
Wozu gibt es Weltsichten? Sie helfen uns, ein vorläufiges Bild zu machen, das Orien[1]tierung bietet. Einem selbst und anderen. Ein Weltbild oder Paradigma legt eine Reihe von Dingen fest, die innerhalb einer Community nicht mehr diskutiert werden müssen man nimmt also vieles als gegeben hin und kann von dieser Ausgangsbasis aus die Welt er[1]schließen. Innerhalb dieses Rahmens ver[1]sucht man, sich auf die Unverständlichkei[1]ten, denen der Homo sapiens ausgesetzt ist, einen Reim zu machen. Innerhalb eines Weltbildes ergeben Gedanken und Hand[1]lungen Sinn. So können sich Gemeinschaf[1]ten erst bilden, in denen man sinnvoll über die Welt kommunizieren kann.
Weltbilder haben `a priori nichts mit Wahrheit zu tun auch wenn Mitglieder einer Community ihr Weltbild gerne mit Wahrheit gleichsetzen. Sie sind zunächst so[1]ziale Konstrukte und Konventionen, sie än[1]dern sich und lösen einander ab. Das trifft insbesondere auch auf wissenschaftliche Weltbilder oder Paradigmen zu. Thomas Kuhn hat die Dynamik der Paradigmen[1]wechsel so beschrieben: Ein Weltbild löst das andere ab, sobald das alte nicht mehr haltbar ist die Welt also nicht mehr gut ge[1]nug erklärt, die Verteidiger des alten Welt[1]bildes aussterben und eine Alternative für ein stimmigeres Weltbild vorliegt. Diesen Prozess kann man historisch hundertfach beobachten: etwa beim Über[1]gang eines vormodernen, religiösen Weltbil[1]des zu einem aufgeklärten humanistischen und wissenschaftlichen im Europa der Re[1]naissance. Oder von einem wissenschaftli[1]chen Weltbild `a la Newton und Kant, in dem sich exakte Vorhersagen machen lassen, zu einem Weltbild `a la Boltzmann, in dem man den Zufall in Vorhersagen einbezieht. Oder von einem Weltbild mit einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit zu einem, wo weder Raum noch Zeit fix sind, sondern davon abhängen, wie die Massen verteilt sind und wie sie sich bewegen wofür es eigentlich schon Raum und Zeit braucht (was die allgemeine Relativitätstheorie schwierig macht). Oder von einem Weltbild des 19. Jahrhunderts, wo die physikalische Welt als Kontinuum gedacht wurde, zu einem diskreten atomistischen, von einem Weltbild mit einer Logik zu einem, wo zwei Logiken koexistieren, eine für die makro[1]skopische und eine für die Quantenwelt. Das sind jeweils Revo[1]lutionen. Typischerweise geht die alte Generation nicht mehr mit, die nächste Generation, die ursprünglich im Unter[1]grund oder am Rande gearbeitet hat, versteht vieles besser und kommt weiter ein stimmigeres Weltbild bricht durch und wird zum Main[1]stream-Weltbild, das sei[1]nerseits andere Strömungen an den Rand drängt, aber von einigen später abgelöst werden wird.
In welchem Paradigma leben wir heute? Was können wir verstehen?
Unser gegenwärtiges wissenschaftliches Weltbild basiert auf einer relativistischen und quantenmechanischen Sichtweise, in der alles, was ist, aus Elementarteilchen be[1]steht, die durch drei verschiedene Grund[1]kräfte miteinander wechselwirken können. Die Gravitation, die vierte Grundkraft, wirkt auf alles, was Masse hat. Die relativistische und quantenmechanische sind zwei Sicht[1]weisen, die trotz massiverAnstrengungen in den letzten hundert Jahren noch nicht in ein einheitliches Schema gebracht werden konnten. Die Entwicklungen, die aus die[1]sem Weltbild hervorgegangen sind, haben uns weit gebracht: Mit der Astrophysik se[1]hen wir bis in den Urknall hinein, Quanten[1]physik, Biologie, Chemie, Genetik erlauben uns, Moleküle zu schneiden und Leben zu verändern, fast jeder der acht Milliarden Menschen kann mit jedem anderen jeder[1]zeit reden, Nahrungsmittel, Transportmittel, Wohnung, Bildung und Gesundheitsversor[1]gung für doppelt so viele Menschen wie vor 50 Jahren und fast alles in viel besserer Qualität.
Wie so oft können wir aber leider nicht alles. Die Kenntnis der Elementarteilchen und der Kräfte, die sie zusammenhalten, er[1]klärt zwar die meisten Eigenschaften der Materie und einen Teil der Evolution des Universums, lehrt aber sehr wenig über die Komplexitätder Welt, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind. Erwartungen, dass die Entschlüsselung der Erbsequenz das Leben nun erklären oder Krankheiten heilen könn[1]ten, sind nicht erfüllt wor[1]den. Und das Relativitäts[1]prinzip hilft wenig, wenn man versucht, Seuchen zu bekämpfen, ein Banken[1]system sicherer zu ma[1]chen oder Menschenrech[1]te in den Zulieferketten weltweit zu garantieren. Komplexität macht uns einen Strich durch die Rechnung. Trotz aller Tri[1]umphe des gegenwärtigen wissenschaftlichen Weltbildes stellt Kom[1]plexität nach wie vor eine Grenze für menschliche Erkenntnis dar.
Komplexität entsteht durch Vernetzung. Ein komplexes System ist eines, das aus vie[1]len Bauteilen besteht, die miteinander in Beziehung stehen. Was diese Beziehung ist, wird durch das Netzwerk beschrieben. Die Teile eines komplexen Systems ändern sich aufgrund der Beziehungen zu anderen Bau[1]teilen, und dadurch verändern sich auch die Beziehungen der Bauteile untereinander. In einem komplexen System verändern sich die Eigenschaften der Bauteile als Resultat der Netzwerke, und die Netzwerke ändern sich als Resultat der veränderten Bauteile. Und genau das macht die Sache komplex. Und extrem schwer handhabbar mit den bestehenden wissenschaftlichen Methoden. Das Verständnis dieser Systeme wird zu[1]sätzlich dadurch erschwert, dass viele Netz[1]werke selber wieder aus Netzwerken be[1]stehen. Oder sie bestehen nicht aus einem Netzwerk, sondern aus vielen die gleich[1]zeitig wirken. Man hört manchmal: Kom[1]plexe Systeme sind mehr als die Summe ih[1]rer Teile. Das stimmt, sie sind die Summe ihrer Teile plus die Regeln, wie sie zusam[1]menhalten ihre Netzwerke.
Die Welt wird zunehmend komplex, weil vernetzter. Viele Netzwerke werden zu[1]nehmend dichter, wie Kommunikation, Ver[1]kehr, Handel, wirtschaftliche Verflechtun[1]gen, Beziehungen et cetera. Dadurch wird die Welt in vielfacher Weise effizienter, aber gleichzeitig auch zerbrechlicher. Die Zu[1]nahme von Umweltkatastrophen, die Kli[1]makrise und gesellschaftliche Spannungen in Form von Polarisierung, Fragmentierung und Parallelgesellschaften sind eine Konse[1]quenz von zunehmender Vernetzung.
Die menschliche Intelligenz scheitert
Menschliche Intelligenz ist vollkommen un[1]geeignet für die Erfassung komplexer Syste[1]me oder deren Netzwerke. Zu schnell ver[1]liert man den Überblick wie was miteinan[1]der zusammenhängt und was etwas anderes wie beeinflusst und was nicht. Deshalb kön[1]nen wir seit Anbeginn der Geschichte Kom[1]plexität nicht verstehen und beherrschen, sondern müssen notgedrungen mit ihr le[1]ben und uns arrangieren.
Wenn man in der Physik etwas voraus[1]sagen will, muss man die Teile kennen und die entsprechende Wechselwirkung. In der Physik gibt es nur vier Arten von Wechsel[1]wirkung. Das sind einfache Systeme keine veränderlichen Netzwerke. Wie viele Arten von Wechselwirkungen gibt es in komple[1]xen sozialen Systemen? Freundschaften, Kommunikation, Austausch von Geschen[1]ken oder Kanonenkugeln, Banktransaktio[1]nen, Geburtstagswünsche, Intrigen, Ge[1]haltszahlungen, Familienfeste, Mord, Shop[1]ping. Welche noch? Richtig, viele Tausende, die alle gleichzeitig und gleich stark wirken können und sich ständig ändern. All diese Interaktionen haben Auswirkungen auf die jeweiligen Interaktionspartner und weiter auf deren Interaktionspartnerund führen zu Veränderungen der Menschen und ihrem Verhalten. Verhaltensänderungen sind nichts anderes als Änderungen in den Inter[1]aktionsnetzwerken. Bislang war es völlig Fortsetzung Seite II unvorstellbar, dass man solche Systeme in den Griff bekommt, ihre Dynamik vorhersa[1]gen oder gar managen kann. Wir haben es in unserem bestehenden Weltbild erst gar nicht versucht.
Was aber, wenn man alle diese Inter[1]aktionen kennt und dazu wüsste, wie die entsprechenden Veränderungen ablaufen? Was, wenn man alles, was passiert, mit[1]schreibt? Alles aufzeichnet? Genau das ge[1]schieht zurzeit. Erstmals in der Geschichte, mit unabsehbaren Folgen.
Wir schreiben mit, wo jeder Mensch ist, wie er sich bewegt, mit wem er kommuni[1]ziert, was er tut, was er isst, was er liest, was er kauft, was er glaubt und was nicht, was er zur Unterhaltung tut, wer seine Freunde, Feinde, Familie sind, was die Meinungen sind, die er anderen gegenüber preisgibt, was er besitzt, wie er sich bildet, seinen Gesund[1]heitszustand. Ähnliches trifft für Firmen zu und Institutionen, sämtliche Telefonate auf dem Pla[1]neten werden registriert, jede Überweisung im Bankensystem oder auf Bitcoin, jede Behandlung im Gesundheitswesen und so weiter. Es gibt kaum noch Bereiche, wo wir keine digitalen Fingerabdrücke hinter[1]lassen.
Wenn wir alles mitschreiben, haben wir erstmals die Möglichkeit zu verstehen, was in komplexen Systemen passiert, wie sie funktionieren, wie effizient sie sind, wann sie zu kollabieren drohen und wie man sie besser machen kann. Erstmals kommt man auch in die Lage, komplexeSysteme zu ma[1]nagen. Alles, was an Daten in sogenannte relationale Datenbanken gespeichert wird, sind nichts anderes als zeitlich veränderli[1]che Netzwerke. Daten stellen immer Dinge miteinander in Beziehung, und sie machen Aussagen über den Zustand der Dinge. Da[1]ten lassen uns alles wissen, was man für komplexe Systeme wissen muss: die Eigen[1]schaften der Bauteile und die Vernetzung zwischen ihnen.
Wenn zu einemSystem sämtliche Daten vorliegen, die es zu erheben gibt, also voll[1]ständige Information vorhanden ist (für mich ist das Big Data), kann man hoffen, komplexe Systeme erstmals auch natur[1]wissenschaftlich verstehen zu können: dass man sie in kausale Interaktionen mit Ursa[1]chen und Wirkungen zerlegen kann. Das ist das Ziel der sogenannten Komplexitätsfor[1]schung, die derzeit großen Aufschwung er[1]fährt. Der gegenwärtigeTrend ist aber nicht auf Komplexitätsforschung beschränkt. Die ebenfalls rapide wachsenden Gebiete der Data Analytics und Network Science fokus[1]sieren meist auf etwas technischere Ziele, verfolgen aber letztlich dasselbe Programm: komplexe, bisher unzugängliche Systeme quantifizierbar und mit massiven Daten[1]sätzen managebar zu machen. Muster in den riesigen Datenmengen zu finden gelingt mehr und mehr mit AI; diese Muster dann in kausale Zusammenhänge und Gesetzmä[1]ßigkeiten zu bringen, bleibt einstweilen wei[1]terhin menschliches Terrain, solange der Mensch noch besser darin ist, auf verschie[1]denen Abstraktionsebenen hin und her zu wechseln.
Komplexe Systeme reagieren oft sehr sensibel auf kleinste De[1]tails und Veränderungen in ihren Netzwerken. Da[1]her ist es notwendig, die[1]se Details möglichst voll[1]ständig zu kennen. Genau das passiert in der gegen[1]wärtigen Datenrevolu[1]tion: Vernetzte Systeme werden erstmals vollstän[1]dig zugänglich. Die erho[1]benen Daten spielen die Rolle von Experimenten, wie man sie seit jeher in den Naturwissen[1]schaften durchführt. Neu ist, dass nicht nur die Phänomene selbst, sondern auch die Kontexte, innerhalb derer sie Kontexte, stattfinden, gemeinsam erhoben werden können.
Phänomene und Kontext gleichzeitig zu erfassen, ist der Traum der Sozialwissen[1]schaften seit ihrem Beginn im 18. Jahrhun[1]dert. Dementsprechendist auch zu erwar[1]ten, dass es in dieser neuen netzwerk-ba[1]sierten Sichtweise zu Durchbrüchen vor allem in den Sozialwissenschaften geben wird. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es dadurch möglich sein wird, Stabilität, Span[1]nungen, Resilienz und systemisches Risiko in vernetzten Systemen zu quantifizieren etwa im Finanzsystem, den Zuliefernetz[1]werken oder in Gesellschaften.
Aber es gibt auch Auswirkungen auf an[1]dere Disziplinen. Etwaim Bereich der biolo[1]gischen Systeme: Das Verständnis von Her[1]denverhalten, Mechanismen der Evolution, Verständnis von Kreativität, Innovation, Konflikten et cetera wurde massiv verbes[1]sert. Oder im klassischen Feld der Epide[1]miologie und dem Verständnis der Rolle von Netzwerken in der Seuchenausbreitung oder bei der Vorhersage von Krankheitsver[1]läufen aufgrund von Co-Morbiditäten und spezifischer Medikation. Selbst in der Phy[1]sik werden dynamische Netzwerke für Spe[1]kulationen zu Ursprung und Natur der Raum-Zeit verwendet.
Und die Datenschutzrechte? Was die Weltsicht von Netzwerken philoso[1]phisch attraktiv macht ist, dass Komplexität, die bislang als strikte Grenze für wissen[1]schaftliche Erkenntnis gegolten hat, eventu[1]ell überwindbar ist: anders als die Erkennt[1]nisgrenzen, die von der Physik bisher gezo[1]gen wurden, wie das Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit, die Unschärferelatio[1]nen der Quantenmechanik, oder Fragen nach dem, was vor dem Urknall oder unter[1]halb der Planck-Länge passiert.
Ich denke, wir sind auf einem Weg zu einem sich immer klarer abzeichnenden neuen wissenschaftlichen Weltbild, das sei[1]nen Fokus nicht mehr auf elementare Bau[1]steine legt, sondern auf die dynamischen Interaktionen zwischen ihnen. Ihre Kennt[1]nis erschließt uns wissenschaftliches Neu[1]land, die Grenzen zwischen Natur- und So[1]zialwissenschaften werden verschwinden. Wir sind noch nicht dort, aber wir sind auf einem rasanten Weg in diese Richtung, und die Dynamikwird schneller.
Ein zentrales Problem auf dem Weg in Richtung dieses neuen Paradigmas liegt da[1]rin, dass diese Daten zusammengeführt werden und gleichzeitig die Datenschutz[1]rechte garantiert sein müssen. Wenn wir Letzteres nicht sicherstellen können, beste[1]hen riesige Gefahren, diesen Weg weiter[1]zugehen, bei aller Faszination und bei allem Potenzial. Jedes Paradigma ist per Defini[1]tion weltverändernd. Auch dieses hat das Zeug dazu, einen massiven gesellschaft[1]lichen Wandel einzuleiten, auch zum Schlechten.
Der in Tirol geborene Komplexitätsforscher studierte theoretische Physik an der Univer[1]sität und der TU Wien und absolvierte au[1]ßerdem ein Wirtschaftsstudium. Seit 2009 ist Thurner Professor für die Wissenschaft komplexer Systeme an der MedUni Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna. Träger des Paul-Watzlawick[1]Ehrenrings 2021 (Foto: Clemens Fabry). STEFAN THURNER
“Was, wenn man alles, was passiert, auf[1]zeichnet? Eben das passiert zurzeit. Mit für die Gesellschaft unabsehbaren Folgen.”
“Umweltkatastrophen und gesellschaftliche Spannungen sind eine Konsequenz von zunehmender Vernetzung.”