Künstliche Intelligenz (KI) ist drauf und dran, weite Teile der Medizin zu revolutionieren und insbesondere vielen Ansätzen der Präzisionsmedizin zum Durchbruch zu verhelfen.
Als in den frühen 1970er-Jahren Forscher der Stanford University das System MYCIN entwickelten, wurden sie eher milde belächelt. Das System sollte Ärzte bei der Behandlung von Infektionen unterstützen. Es war damals eine echte Aufbruchszeit, in der – ausgehend von der damals mächtigen Kybernetikbewegung – digitale Technologien in neue Anwendungsbereiche gebracht werden sollten. Die Forscher waren damit allerdings nicht erfolgreich. Die Erfolge blieben aus, es wurde wieder still um solche Projekte.
Heute ist die Situation völlig anders: Dank wesentlich leistungsfähigerer Computer, intensiver Vernetzung und massig vorhandener Daten können die alten Ideen nun verwirklicht werden. Heute ist es in der Tat möglich, Systeme zu bauen und zu betreiben, die komplexe Aufgaben erledigen können, von denen man bisher gedacht hat, dass sie dem Menschen vorbehalten wären.
Mit dem Überbegriff „Künstliche Intelligenz“ (KI) fasst man ein buntes Sammelsurium von algorithmischen, statistischen und Lernmethoden zusammen, die es Maschinen ermöglichen, nicht bloß stur vorprogrammierten Abläufen zu folgen, sondern darüber hinaus auf Situationen zu reagieren und dazuzulernen. Das aktuelle Nonplusultra unter den KI-Methoden ist „Deep Learning“ – dabei werden in sogenannten künstlichen neuronalen Netzen einige der Mechanismen nachgebildet, wie Gehirne arbeiten.
Augenkrankheit früher erkennen. Die Leistungsfähigkeit dieser Lernverfahren wurde erfolgreich unter anderem in Spie-
len bewiesen (Schach, Go etc.). Wir alle nutzen KI-Systeme bereits etwa in Form von Suchprogrammen, bei Übersetzungshilfen oder bei der Spracherkennung. Aber auch in der Medizin wurde das Potenzial bereits eindrucksvoll gezeigt. Ein Beispiel ist eine Entwicklung eines Teams um Ursula Schmidt-Erfurth, Augenspezialistin an der Medizinischen Universität Wien. Dabei geht es um die „altersbedingte Makula-Degeneration“ (AMD), eine schlimme Erkrankung der Netzhaut, die ab dem 50. Lebensjahr vermehrt auftritt. Diagnostizieren lässt sie sich mithilfe der „optischen Koheränztomografie“ (OCT), die berührungslos hochauflösende 3D-Bilder der Netzhaut liefert. Das Problem dabei ist, dass die Veränderungen in frühen Stadien der Krankheit (wenn man noch etwas dagegen unternehmen kann) minimalst sind. Hier hilft „Deep Learning“: Der Algorithmus findet – nach einem Training an Tausenden Bildern – selbsttätig alle veränderten Bildpunkte, erkennt Muster und kann unter anderem den Schweregrad einer Erkrankung ableiten. Eine wertvolle Hilfe für den behandelnden Arzt.
Röntgenbilder rascher bewerten. Ein anderes aktuelles Beispiel liefert das österreichische Start-up-Unternehmen Contextflow, eine Ausgründung von Forschern der Technischen Universität Wien und der MedUni Wien. In den vergangenen zehn Jahren wurde ein System für die automatisierte Bildersuche in der Radiologie entwickelt. Die Maschine sucht zu einem aktuellen Röntgen- oder Computertomografiebild eines konkreten Patienten automatisch ähnliche Bilder. Aber nicht nur: Zusätzlich werden auch die mit den Bildern verknüpften Diagnosetexte durchsucht, wodurch das System eine Diagnose für ein bestimmtes Bild vorschlagen kann. Einfache Fälle können auf diese Weise viel schneller als bisher bearbeitet werden. Bei schwierigen Fällen, für die dann mehr Zeit bleibt, erhöht der Computer durch Anzeigen passender Vergleichsfälle die Sicherheit und Genauigkeit der Diagnose.
Komorbiditäten besser verstehen. Dieser Tage veröffentlichten Forscher des Complexity Science Hub Vienna eine Studie, in der Krankheitsverläufe von Millionen – anonymisierter – Patientendaten aus österreichischen Krankenhäusern untersucht wurden. Dabei ging es um Zusammenhänge zwischen verschiedenen Krankheitsbildern, die typischerweise aufeinanderfolgen („Multimorbiditäten“). Gefunden wurden mehrere Cluster von Krankheitsverläufen, die zum einen die Planung im Gesundheitswesen vereinfachen und zum anderen im Einzelfall eine Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) ermöglichen und so zu einer präziseren Behandlung beitragen. Bei der Analyse der Massen an Daten und beim Finden von Mustern leisteten KI-Methoden wertvolle Dienste.
Großes Potenzial. Zusammengenommen zeigen diese drei Beispiele prototypisch, welche Potenziale in KI-Anwendungen für die Medizin stecken – deutlich sichtbar werden aber auch die möglichen Probleme,
die daraus erwachsen. Auf der einen Seite unterstützen KI-Systeme die Diagnose von Krankheiten und machen Vorschläge für Therapien. Das spart Zeit und entlastet Ärztinnen und Ärzte, sodass mehr Zeit für das Lösen kniffliger Fälle bleibt. Überdies leisten KI-Systeme wertvolle Dienste bei der Auswertung von Labordaten oder bei der Suche nach neuen Wirkstoffen – auch auf individueller Basis. Methoden der Künstlichen Intelligenz ermöglichen es dadurch, Ideen der Präzisionsmedizin in die Praxis umzusetzen – von individualisierter Krebsbehandlung bis hin zu OP-Robotern.
Mögliche Schattenseiten. Auf der anderen Seite hat die Entwicklung aber Schattenseiten und wirft Schwierigkeiten auf, für deren Lösung derzeit keine Patentrezepte parat liegen. Ein großes Problemfeld ist die Technologie selbst. „Deep Learning“-Systeme benötigen zum Training sogenannte Lerndaten – und von deren Qualität und Güte hängt die Zuverlässigkeit der Ergebnisse ab. Das ist in herkömmlichen medizinischen Datenbanken ein echtes Problem, da die Daten meist in völlig unstrukturierter Form archiviert sind.
Aber auch die Methode selbst ist nicht unkritisch. Neuronale Netze sind eine Art „Blackbox“. Man kann nicht hineinschauen, wie ein KI-System zu einem gewissen Ergebnis gekommen ist – man kann also nicht nachvollziehen, auf welchen Kriterien eine Entscheidung beruht. Das Beheben dieses Mankos ist derzeit eine der ganz großen Forschungsaufgaben.
Ethische Fragen. Ein zweites, noch viel schwierigeres Thema sind ethische Fragen. Wie zum Beispiel: Wer trägt die Verantwortung für KI-gestützte Fehlentscheidungen? Wem gehören die Daten? Wer kann und soll darauf Zugriff haben? Ergibt sich durch den notwendigen hohen finanziellen Aufwand etwa für Roboter-OP-Systeme eine Benachteiligung sozial schwacher Schichten? Um Antworten auf diese ungelösten Punkte zu finden, hat der Rat für Forschung und Technologieentwicklung im Vorjahr eine Vielzahl an Fragen zum Thema „Digitaler Wandel und Ethik“ formuliert. Das Ziel ist es, die Entwicklungen gesellschaftspolitisch und ethisch zu bewerten und in eine gesellschaftlich erwünschte Richtung zu gestalten. Derzeit wird die Fragenliste in Diskussionen und Studien systematisch abgearbeitet – im Sommer soll ein erstes Resümee vorliegen.
Arztrolle neu definieren? Ein zentraler Punkt ist dabei die zukünftige Rolle von Medizinern. Alle relevanten Forscher betonen, dass der behandelnde Arzt, die Ärztin, immer die letzte Instanz bei Entscheidungen sein muss – Faktoren wie Erfahrung, Menschenkenntnis und Intuition bleiben unverändert wichtig.
Doch ebenso unbestritten ist, dass zum einen Maschinen viel mehr Fachwissen einbringen können und zum anderen auch neue Möglichkeiten der Einbindung von Patienten entstehen. Man denke nur an Handy-Apps, mit denen hochqualitative individuelle Gesundheitsdaten gewonnen werden können. Als sicher darf wohl eines gelten: Sowohl die Rolle von Ärzten als auch die Arzt-Patienten-Beziehung wird sich durch die neuen Technologien verändern.