Warum Österreich lockert, trotz Zahlen auf deutschem Niveau
Obwohl die Zahl der Corona-Infektionen in Österreich immer noch relativ hoch ist, lockert die Regierung den Lockdown. Dahinter steht ein bestimmtes Kalkül. Ein Vorbild auch für Deutschland?
Kann Österreich mit seiner Strategie ein Vorbild für Deutschland sein? Die Bundesregierung will am Mittwoch über das weitere Vorgehen beraten. Weitere Lockerungen sind bisher aber nicht zu erwarten. Dabei warnen Psychologen und Wirtschaftsforscher mittlerweile immer stärker vor den Folgen strenger Lockdown-Maßnahmen wie in Deutschland. Epidemiologen und Immunologen, wie die Forscher Christian Drosten und Melanie Brinkmann, sind dagegen strikt gegen Lockerungen. Das ist auch in Österreich so.
Allerdings zeigten in der Alpenrepublik andere führende Mediziner Verständnis für den Lockerungskurs der schwarz-grünen Koalition in Wien. Wenn man der Realität ins Auge schaue, sagte etwa Gerald Gartlehner, Epidemiologe an der Donau-Universität Krems, müsse man festhalten, dass der Lockdown zuletzt nicht mehr die gewünschten Effekte gebracht habe. Es wäre zu befürchten gewesen, so Gartlehner, dass noch mehr Menschen einfach nicht mehr mitgemacht hätten.
Der bekannte Mikrobiologe Michael Wagner von der Universität Wien sagte ebenfalls, dass der rein epidemiologischen Sicht auch wirtschaftliche und psychologische Argumente „und nachvollziehbare andere Argumente“ gegenüberstünden. Was Wagner meinte, zeigen die neuen Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat.
Die Wirtschaft in Österreich ist im vierten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 7,8 Prozent eingebrochen – schlechter war in der EU nur noch Spanien. Der Grund liegt vor allem im Rückgang des Tourismus.
Kurz’ schwerste Entscheidung
Die Corona-Fallzahlen in Österreich sind weit entfernt von den selbst gesteckten Zielen der Kurz-Regierung. Die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen innerhalb einer Woche liegt derzeit bei 105 pro 100.000 Einwohner – angestrebt war dagegen eine Inzidenz von höchstens 50. Laut neuesten Zahlen vom Wochenende infizierten sich innerhalb von 24 Stunden 1333 Personen – Ziel der Regierung war, den Wert auf 700 zu drücken.
Für Kurz ist der vorübergehende Lockerungskurs die wohl schwerste Entscheidung seiner Amtszeit. Fast flehentlich appellierte er zuletzt an die Bevölkerung: „Bitte verstehen Sie die Lockerungen nicht als Entwarnung!“ Österreichs Kanzler weiß, dass es Kritik hagelt, wenn die Infektionszahlen demnächst wieder deutlich steigen sollten: „Wir sind uns vollkommen bewusst, dass es infolge unserer Politik der vorsichtigen Öffnung auch wieder zu einem Anstieg der Ansteckungszahlen kommen kann.“
Aber er weiß auch, dass ein Regierungschef das gesamtgesellschaftliche Wohl im Blick haben sowie Risiken und Chancen abwägen muss. Insofern zeigt Kurz durchaus Mut. „Wir nehmen hier ein Risiko“, sagte auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). Es sei ein „Ritt auf der Rasierklinge“, betonte Hermann Schützenhofer (ÖVP), Landeshauptmann (Ministerpräsident) der Steiermark.
Wie sehen die Lockerungsmaßnahmen im Nachbarland nun genau aus? Alle Geschäfte öffnen wieder – es herrscht aber FFP2-Maskenpflicht und für jeden Kunden müssen rechnerisch 20 qm Platz sein. Für kleinere Geschäfte gilt die Ein-Personen-Regel. Masseure, Friseure und Kosmetiker dürfen wieder arbeiten – Kunden müssen aber einen negativen Corona-Test, der nicht älter sein darf als 48 Stunden, aus einem Testzentrum, vom Arzt oder aus einer Apotheke vorweisen.
In jeder Schule werden zudem „Miniteststraßen“ eingerichtet: Die Schüler müssen sich ein- bis zweimal pro Woche mit „Nasenbohrerschnelltests“ unter Aufsicht von Lehrern selbst testen. „Die Schule ist eine Herausforderung“, räumte Kurz ein. Auch Museen, Zoos und Bibliotheken öffnen wieder. Bis zu vier Erwachsene und sechs Kinder aus zwei Haushalten dürfen sich künftig im privaten Wohnbereich treffen, gleichzeitig werden die Strafen für Verstöße gegen die Corona-Regeln empfindlich erhöht und die Einreisebestimmungen verschärft.
„Hoffe, dass sie Risiko kontrollieren kann“
Die Chefin der Sozialdemokraten, Pamela Rendi-Wagner (SPÖ), kritisiert den Kurs scharf: „Die Lockerungen über die Schule hinaus sind ein großes Risiko, weil die Infektionszahlen in Österreich nach wie vor zu hoch sind und die Zahl der Impfungen immer noch zu niedrig“, sagte sie WELT. Hinzu kämen die britischen und südafrikanischen Virusvarianten. „Das bedeutet, dass es in wenigen Wochen dazu kommen kann, dass die Infektionszahlen wieder stark ansteigen, es also zu einem exponentiellen starken Wachstum kommt und ein neuerlicher Lockdown in Österreich notwendig wäre.“
Es wäre richtig gewesen, so die Chefin der größten Oppositionspartei weiter, noch zwei bis drei Wochen durchzuhalten, um die Infektionen zu reduzieren, die Impfzahlen zu erhöhen und um allen Österreichern „Wohnzimmertests“ zur Verfügung zu stellen. „Die Regierung aus ÖVP und Grünen ist mit ihrer Entscheidung ein großes Risiko eingegangen. Ich hoffe, dass sie dieses Risiko kontrollieren kann“, sagte die SPÖ-Chefin
Das könnte sich aber bald ändern. Nach Angaben von Oswald Wagner, Vizerektor der Medizinischen Fakultät der Universität Wien und Mitglied des Covid-19-Expertenrats der Regierung, macht die um 30 bis 70 Prozent ansteckendere britische Virusvariante B.1.1.7 mittlerweile allein in Wien bis zu 40 Prozent der Neuinfektionen aus. Das macht die jetzigen Öffnungsschritte so riskant.
„Es ist alles eher auf Sand gebaut“, sagt der Prognoseforscher und Physiker Peter Klimek. Der Experte erwartet, dass sich die britische Corona-Mutation noch im Februar durchsetzen wird. Wenn diese Variante eine Verdopplungszeit von nur einer Woche habe, „dann wären wir binnen einer Woche von einer Inzidenz von 100 auf 200 und so weiter“.
Hinzu kommt, dass sich in Tirol, so die Innsbrucker Virologin Dorothee von Laer, ein „Tiroler Subtyp“ der südafrikanischen Corona-Variante B.1.351 ausbreite. Die neue Mutante stellt die Mediziner vor drei Herausforderungen: Sie ist ansteckender, reagiert weniger auf Impfungen und sie kann zu Reinfektionen führen. Bisher sind offiziell 165 Fälle nachgewiesen.
Kurz ahnt, was auf Österreich zukommen könnte. Die europäische Impfstoffbeschaffung verlaufe nur schleppend und die Corona-Mutationen breiteten sich aus: „Ich bin mir sicher, dass die kommenden Monate noch extrem heftig werden“, sagte er am Wochenende. Unteressen will die Regierung Grenzkontrollen zu Deutschland und weiteren Nachbarländern ab Montag massiv verschärfen.