Drogenkartelle: Nur Rekrutierungsbremse dämmt Gewalt ein
Wie lässt sich die Macht der mexikanischen Drogenkartelle brechen? Nicht durch Gerichte und Gefängnisse. Die einzige Möglichkeit ist, die Anwerbung neuer Mitglieder zu stoppen. Das zeigt eine in „Science“ veröffentlichte Studie.
Vor acht Tagen wurde Ovidio Guzmán – sechs Jahre nach seinem Vater, „El Chapo“ Joaquín Guzmán, und mit demselben Flugzeug – an die USA ausgeliefert. Er gilt als eine der Schlüsselfiguren im Handel mit dem synthetischen Opioid Fentanyl, einem sehr starken Schmerzmittel mit hohem Suchtpotenzial. Sein Kartell stellte in Mexiko aber in großem Stil auch andere Drogen her und brachte sie in die USA. Außerdem sollen mehrere Morde auf sein Konto gehen.
Ein großer Schlag, möchte man meinen. Doch der aus Mexiko stammende Mathematiker Rafael Prieto-Curiel, der als Postdoc am Complexity Science Hub in Wien forscht, legt nun nahe, dass Inhaftierungen nicht die erwünschte Wirkung haben. „Wir haben in den vergangenen 15 Jahren gesehen, dass, wenn man den Kopf entfernt, ein Kartell nicht beseitigt ist. Es entstehen neue Gruppen, die sich mitunter weiter aufspalten und auch gegeneinander kämpfen“, schildert er. Die Spirale der Gewalt dreht sich also noch schneller.
Fünftgrößter Arbeitgeber
Die Strategie der letzten Präsidenten Mexikos sei nicht erfolgreich gewesen, sagt Prieto-Curiel: „Wir haben die meisten mexikanischen Drogenbarone außer Gefecht gesetzt: inhaftiert oder getötet. Aber hat das zu weniger Gewalt oder zu weniger Drogen in den USA geführt? Oder zu einem friedlicheren Land mit weniger Kartellmitgliedern? Nicht wirklich.“ Er selbst habe den Wandel eines Landes miterlebt, „das um 2007 noch friedlich war und jetzt, 2023, überhaupt nicht mehr friedlich ist“.
Von 2012 bis 2021 seien die „kartellbedingten Todesfälle“ um 77 Prozent angestiegen. Mache man so weiter wie in den vergangenen zehn Jahren, werde es bis 2027 40 Prozent mehr Tote geben und die Kartelle hätten 26 Prozent mehr Mitglieder. Das zeigt die von Prieto-Curiel und zwei Kollegen durchgeführte, nun in Science veröffentlichte Analyse über Morde, vermisste Personen und Inhaftierungen in Mexiko von 2012 bis 2022 – die erste zur Größe mexikanischer Kartelle sowie zu Folgen möglicher Maßnahmen im Kampf gegen die Gewalt.
Seine Forschungen belegen, dass mexikanische Kartelle derzeit zwischen 160.000 und 185.000 Mitglieder haben – das macht sie zum fünftgrößten Arbeitgeber im Land. Doch trotz der Bemühungen des Staates, etwa der jährlichen Inhaftierung von rund 6000 Kartellmitgliedern, hat sich ihre Mitgliederzahl seit 2012 um 60.000 erhöht. Die Kartelle rekrutieren mehr Leute, als sie verlieren. Der Zustrom reißt nicht ab, obwohl viele einen gewaltsamen Tod sterben.
Es gelte, die Teenager, die heute rekrutiert werden und die in fünf Jahren Auftragskiller sein könnten, ins Visier zu nehmen, sagt Prieto-Curiel: „In zehn Jahren werden 17 Prozent der von den Kartellen neu angeworbenen Personen tot sein und 20 Prozent in Gefängnissen sitzen“, rechnet der Wissenschaftler vor, der einst auch für die Polizei in Mexico City forschte.
TV präsentiert Sonnenseiten
Zumindest 350 neue Mitglieder müssen jede Woche rekrutiert werden, um diese Verluste auszugleichen, zeigen mathematische Modelle. Hier sieht Prieto-Curiel die entscheidende Möglichkeit, zu intervenieren. „Selbst wenn es gelänge, doppelt so viele Kartellmitglieder strafrechtlich zu verfolgen und doppelt so viele Menschen ins Gefängnis zu bringen, gäbe es im Jahr 2027 immer noch um acht Prozent mehr Todesfälle.“ Prävention würde helfen: Eine Halbierung der Rekrutierungszahlen könnte die wöchentlichen Opferzahlen bis 2027 um 25 Prozent und die Größe der Kartelle um elf Prozent reduzieren.
Doch wieso sind die Kartelle so erfolgreich beim Rekrutieren neuer Leute? Zum einen böten sie eine Einkommensquelle, die besser ist als das, was diese vielleicht auf dem legalen Markt erhalten würden, erläutert Prieto-Curiel. Zweitens setzen sie Gewalt ein. „Sie rekrutieren mit Drohungen, mit der Macht der Waffen und mit der Macht der Einschüchterung.“
Und drittens gebe es auch eine kulturelle Seite: „Stellen Sie sich vor, Sie schalten heute Ihren Fernseher ein und sehen in Serien den erfolgreichen Teil der Kartelle: Besitztümer, Autos, Häuser, Frauen.“ Gefährliche Vorbilder für 13-Jährige mit schlechten Zukunftschancen: Man habe den Teenagern so verkauft, dass sie erfolgreiche Drogendealer sein könnten – statt Schriftsteller, Sportler oder Wissenschaftler, so Prieto-Curiel.
Hat ihn die Gewalt selbst betroffen? Nein, sagt er. Warum hat er Mexiko verlassen? Um am University College London zu studieren und an der Universität Oxford zu forschen. Nachsatz: „Ich liebe mein Land.“
In Zahlen
34.000 Menschen starben 2021 in Mexiko durch vorsätzliche Tötungsdelikte. Das entspricht rund 27 Opfern pro 100.000 Menschen.
6000 Kartellmitglieder werden jedes Jahr in Mexiko verhaftet. Dennoch hat sich ihre Zahl seit 2012 um etwa 60.000 erhöht.