Ein Flugsimulator für die Welt
Stefan Thurner weiß, dass in unserer Welt alles mit allem zusammenhangt. Dank Big Data kommt der Komplexitatsforscher nun dem WIE immer mehr auf die Spur. Unsere Zivilisation sieht er mit zahlreichen Gefahren konfrontiert, denen man mit einem besseren Verständnis der Zusammenhange komplexer Systeme wirksamer begegnen könnte.
ECO.NOVA: Sind wir mit Big Data dem Wunsch,zu erfahren, was – nach Goethes Faust – die Weltim Innersten zusammenhält, entscheidend näher gekommen?
Stefan THURNER: Ja, wir sind erstmals in dieser Position – ganz ohne Teufel oder Mephisto, aber dennoch mit großen Gefahren. Dass wir nämlich diese Daten an Firmen abgeben, die sie letztlich gegen uns verwenden, durch Werbung, aber auch durch schlimmere Arten der Manipulation, wie etwa Wahlbeeinflussung.
Ist dort, wo die Fäden der Big-Data-Analyse zusammenlaufen würden, nicht unheimlich viel Macht konzentriert? Wie ist das ethisch zu rechtfertigen?
Wo Daten zusammenlaufen, ist Macht, wenn man sie in Information umwandeln kann. Schauen Sie sich die mächtigsten Firmen der Welt an. Was machen die? Sie basieren auf Daten, die ihnen die Menschen dieser Welt meist freiwillig zutragen. Sie sind inzwischen zum Teil sicher schon mächtiger als Staaten. Bei Staaten laufen auch oft Daten zusammen. Wenn sie dort aber nicht verwendet werden können, entsteht dort keine Macht und kein Nutzen. Das stellen wir derzeit in vielen Staaten Europas fest, auch in Österreich. Das ist, wenn man sagt: Wir fallen in der Digitalisierung zurück.” Viele Staaten nutzen die Daten ihrer Bürger – leider oft nicht in einem positiven Sinn. China zum Beispiel. Ziel in Europa müsste sein, dass Staaten diese Daten nutzen können, um im positiven Sinn mächtig zu sein, unter anderem mächtig genug, um die Datenmonopolisten wie Google, Amazon, Microsoft, Facebook und andere vernünftig regulieren zu können. Viele Staaten haben dazu wohl nicht mehr die Macht und die Möglichkeiten.
Stürzt das, was Sie in Ihrem Buch andeuten – dass an allen Ecken und Enden Gefahren drohen und unserer Zivilisation der Untergang droht die Menschen nicht in eine existenzielle Krise und Schockstarre, die entschiedenes Handeln konterkariert?
Nein, ich denke, es gibt eine Reihe von Menschen, die diese Probleme lösen wollen und auch können. Ich stelle ab und zu aber fest, dass Leute, die sich wenig in dieser digitalen Welt zuhause fühlen, eher in eine solche Schockstarre verfallen. Das ist das Gegenteil von dem, was man machen sollte. Man sollte Engagement, Daten und Wissenschaft verwenden, um aufzuzeigen, wo die größten Probleme liegen und wo die größten Schwachstellen im System sind. Diese kann man gezielt verbessern und kollektiv versuchen, durch kleine Änderungen als Einzelne*r einen kleinen Beitrag zu leisten. Das kann zu einer schnellen Verbesserung der Situation führen. Daran müssen wir arbeiten. Wie man das genau macht, müssen wir erst lernen. Das tun wir aber.
WO DATEN ZUSAMMENLAUFEN, IST MACHT, WENN MAN SIE IN INFORMATION UMWANDELN KANN.” Stefan Thurner
IM JAHR 2000 HABEN ALLE GEDACHT, JETZT BRICHT EINE WUNDERBARE ZEIT AN, ALLE HABEN ZUGRIFF AUF ALLE INFORMATIONEN UND DIE NEUE TRANSPARENZ WIRD DIE POLITIK BESSER UND GERECHTER MACHEN – IN VIELEN LÄNDERN IST DAS GEGENTEIL EINGETRETEN.” STEFAN THURNER
ZUR PERSON Univ.-Prof. Mag. DDr. Stefan Thurner, geboren 1969 in Innsbruck, ist Physiker und Ökonom. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna (CSH). eco Wirtschaft
Im Complexity ScienceHub Vienna arbeiten Sie an nichts Geringerem als einem “Flugsimulator für die Welt”. Wie weit ist dieses ambitionierte Vorhaben inzwischen gediehen?
Es ist eine Vision, die groß ist wie ein Berg. Wir arbeiten daran und haben hier und dort schon etwas beigetragen. Wir bauen zum Beispiel ein Simulationsmodell für die österreichische Wirtschaft und können damit Sachen machen, die vor einigen Jahren noch völlig unmöglich waren. Zum Beispiel sagen, wie gefährlich einzelne Finanztransaktionen sind. Oder wie Zulieferketten aussehen und wie stabil diese sind. Manchmal fehlen uns noch gute Datendazu. Ein schönes laufendes Projekt ist, wenn man die derzeitige Realwirtschaft kennt und ihre Rolle in der Gesellschaft, wie man optimal die grüne Wende schafft – also wie bekommt man die Energiewende mit minimalem sozialen Stress hin.
Was haben Sie durch die anhaltende Corona-Pandemie über komplexe Systeme gelernt?
Wir haben ab März sechs Wochen nur zu Corona gearbeitet und einiges darüber gelernt. Wir haben dazu beigetragen, wie man effizienter testen kann, besser verstanden, wie sich dieses Virus anders verhält als andere Viren, was einzelne Maßnahmen bringen. Wir machen eine wöchentliche Prognose zu den Fallzahlen und wir verstehen inzwischen besser, wie die Zulieferketten aussehen und wie sie zusammenbrechen könnten.
Wie können Sie mit dem Wissen um die Fragilität der Welt optimistisch bleiben?
Indem man erkennt, dass man Probleme lösen kann, wenn es andere auch wollen. Wenn man noch dazu weiß, wie Dinge miteinander zusammenhängen, sieht man manchmal, wenn man dieses Problem löst, löst sich auch ein anderes, und dieses kann wiederum andere Probleme lösen. Das ist meine große Hoffnung: Wenn man ein paar zentrale Dinge ändert, dass sich dann vieles auf einmal löst. Die zentralen Dinge sind oft kleine Verhaltensänderungen, die den C02-Ausstoßreduzieren, und Schritte, die unsere Demokratien schützen und Institutionen reformieren, damit sie in der digitalen Welt handlungsfähig bleiben.
Sie besprechen in Ihrem Buch die Zerbrechlichkeit des Finanzsystems und plädieren für eine neue Ökonomie, die Complexity Economics, die auf Big Data, Netzwerken, Rechenleistung und dem Verständniskomplexer Systeme beruht. Geldpolitisch sind wir spätestens seit der Finanzkrise auf Neuland unterwegs. Lassen sich mit Complexity Economics diesbezüglich bessere Vorhersagen treffen als mit den traditionellen Modellen?
Ja, durchaus. Wenn man weiß, wie Akteure im Finanzmarkt zusammenhängen – über ihre Kredite zum Beispiel -, kann man berechnen, was passiert, wenn einer ausfällt. Man kann simulieren, was bei einer Wirtschaftskrise passiert, und jetzt schon feststellen, wo die Schwachstellen im System sind. Das konnte man bislang nicht.
Von welchem Bereich geht aus Ihrer Sicht die größte Gefahr für die Menschheit aus?
Der Klimawandel ist vermutlich die größte einzelne Gefahr. Diese hängt auch mit der zweitgrößten Gefahr zusammen, der Möglichkeit, dass wir unsere Zivilgesellschaft zerstören oder zerstören lassen, von Populisten zum Beispiel, die unhaltbare Versprechungen machen, Außenfeinde erfinden und am Schluss keine Lösungen anbieten können. Geht der Planet kaputt, kommen sicher extreme Regierungsformen an die Macht, die die Gesellschaft kaputt machen. Oder geht die Gesellschaft kaputt, wird man noch weniger tun, um das Klima zu retten.
Ähnelt unsere heutige Welt eher jener, die Aldous Huxley in seinem Roman „Brave New World” beschrieben hat, oder jener, wie sie George Orwell in 1984gezeichnet hat?
Sehr gute Frage. Vielleicht beides. Ein Überwachungsstaat à la Orwell ist in China bereits Wirklichkeit. Was faszinierend ist, dass die technische Entwicklung in Wirklichkeit sehr viel schneller war, als die beiden Herren vermutet hatten, aber zumindest in Europa und den USA haben wir noch keinen Big Brother. Odervielleicht doch? Die Überwacher im Westen sind sicher keine Parteien, sondern möglicherweise die Datenmonopolisten. Und diese operieren nicht ideologisch, sondern verdienen durch Konsum, Sex und Unterhaltung, also Huxley’s Sorna. Die Schöne neue Welt” ist in Ansätzen sicher auch Realität, aber das war sie schon in den 1930er-Jahren.
Ist, wie es Churchill einmal formuliert hat, die Demokratie nach wie vor die schlechteste Regierungsform mit Ausnahme aller anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden, oder verlangt die digitalisierte Welt der Daten nach Alternativen?
Ich denke, es braucht Alternativen. Nicht darin, dass jede Stimme gleich viel wert ist, aber dafür, wie man politische Entscheidungsprozesse nachvollziehbarer macht. Transparenz und Fakten spielen eine entscheidende Rolle. Was passiert, wenn man die neuen Möglichkeiten der sozialen Medien nutzt, um nur noch zu lügen, haben wir in der Ära Trump gelernt: Es entsteht eine Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft wie nie zuvor. Dann funktioniert Demokratie einfach nicht mehr. Es braucht Alternativen, vor allem für das Erkennbar machen von Wahrem und Falschem. Im Jahr 2000 haben alle gedacht, jetzt bricht eine wunderbare Zeit an, alle haben Zugriff auf alle Informationen und die neue Transparenz wird die Politik besser und gerechter machen – in vielen Ländern ist das Gegenteil eingetreten.
Würde, befolgte man die „Regeln” der Komplexitätsforschung bzw. deren Prognose von Tipping-Points, ein Primat der Wissenschaft vor der Politik der Fall sein?
Nein, Wissenschaft zeigt Möglichkeiten auf und legt bestenfalls Handlungsalternativen auf den Tisch. Und sie bildet die Leute aus, die diese nach neuestem Stand umsetzen könnten. Die Politik entscheidet – dafür ist die demokratisch legitimiert und beauftragt. Das muss in Nichtkrisenzeiten immer so sein. Was man allerdings diskutieren könnte, ist, ob im Fall akuter Krisen nicht Übergangsregierungen mit wissenschaftlicher und technischer Kompetenz zeitlich befristet legitimiert werden sollten, die einer ganz konkreten Problemlösung verpflichtet sind und nicht dem Diktat der Parteipolitik unterliegen, das in Krisenzeiten echte Problemlösungen – sagen wir’s freundlich – nicht gerade erleichtert.
BUCHTIPP DIE ZERBRECHLICHKEIT DER WELT Stefan Thurner, edition a, 272 Seiten, EUR 24,00 Der Klimawandelschreitet voran, die Gesellschaft ist tief gespalten und der Wirtschaft droht ein Kollaps verheerenden Ausmaßes. Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Berater der österreichischen Bundesregierung bei der Bekämpfung der Coronakrise, zeigt anhand der Wissenschaft Komplexer Systeme, wie zerbrechlich die Welt geworden ist und wie wir sie mit Hilfe von Wissenschaft und Big Data doch noch zur besten aller Zeiten machen können.