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Florian Klenk, Chefredakteur
Die Regierung hat nach wie vor keine klare Regel vorgegeben, ab wann sie den Unterricht wieder hochfahren will. Zuletzt hieß es im Kanzleramt, wenn die Neuinfektionen nur mehr zweistellig seien, könne man eine Schulöffnung wagen. Das war am letzten Wochenende allerdings bereits der Fall. Im Bildungsministerium – das die Schulen lieber früher als später hochfahren würde – rechnet man intern mit frühestens 15. Mai oder Anfang Juni. Also dann, wenn auch die „Corona-Matura“ stattfinden soll.
Die rund 40.000 Maturanten sind die Einzigen, die schon wissen, was kommt: Sie kehren am 4. Mai in die Schulen zurück, die Zentralmatura findet ab 25. Mai statt, nur schriftlich, in drei Fächern, mit Maske beim Eintritt, Sicherheitsabstand und desinfizierten Räumen. Im Gesundheits- wie Bildungsministerium schließt derzeit aber auch niemand aus, dass die Schulen erst wieder im September „starten“ und es dafür im Sommer ähnlich wie in den Osterferien eine eigene „Sommerschulbetreuung“ geben wird. Dem Vernehmen nach ist das auch die von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bevorzugte Lösung, weil sie aus volkswirtschaftlicher Sicht am wenigsten kostet, aber virologisch einiges bringt. Dass die Bevölkerung das weiter mittragen würde, weiß das Bildungsministerium aus Meinungsumfragen, die es laufend durchführen lässt. Die Disziplin der Familien ist derzeit noch sehr hoch, der Wille, es ohne Schule zu schaffen, groß. „Wir sind ein Land der Mütter“, sagt ein leitender Beamter im Bildungsministerium, „Druck der Eltern, Schulen zu öffnen, gibt es derzeit noch nicht. In skandinavischen Ländern wäre das unvorstellbar.“
Das erklärt auch, wieso vor den Osterferien österreichweit nur etwa 0,5 Prozent der Schüler in „Betreuung“ waren. Seitdem registriert das Ministerium täglich einen leichten Zuwachs von 0,2 bis 0,4 Prozent an Schülern, die in die Schulen kommen. Zu Wochenbeginn waren es dann etwa zwei Prozent der Sechs-bis 14-Jährigen.
Sind Schulen nicht Virenschleudern?
„Fragen Sie fünf Wissenschaftler, dann bekommen Sie fünf unterschiedliche Meinungen“, seufzt ein Spitzenbeamter in einem krisenrelevanten Ministerium. „Letztlich ist es eine politische Entscheidung.“ Umgekehrt formuliert: Für welchen Weg auch immer sich die Regierung entscheidet, es würde sich ein Wissenschaftler finden, der ihn unterstützt. Zu den Befürwortern einer schnelleren Schulöffnung gehören vor allem Public-Health-Experten, deren Ausbildung sie auf eine ganzheitliche Sicht der Krisenfolgen trainiert. Etwa der Grazer Martin Sprenger, der im wissenschaftlichen Corona-Beirat des Gesundheitsministeriums saß, dann aber ausschied, weil er seine „wissenschaftliche Freiheit wiedergewinnen“ wollte. Sprenger plädiert seit Wochen dafür, in drei wenig betroffenen Bundesländern, nämlich Kärnten, Steiermark und dem Burgenland, den Schulbetrieb probeweise zu starten. Er beruft sich dabei auf eine Sammelstudie im Lancet, laut der Schulschließungen die Sterbefälle zwar um zwei bis vier Prozent reduzieren, aber im Gegenzug „massive psychosoziale Auswirkungen auf Kinder und Familien hätten – von psychischen Problemen durch Einsamkeit über schulisches Zurückfallen bis hin zur steigenden Gewalt“.
Dazu käme, dass Kinder sich zwar schneller anstecken, aber das Virus auch leichter verarbeiten. Deshalb sei es auch weiterhin wichtig, bei Schul- und Kindergartenöffnungen den Kontakt zu älteren und vulnerablen Menschen strikt zu vermeiden. Ältere Lehrer würden dann digital unterrichten müssen. „Kinder machen einen sehr geringen Anteil der gemeldeten COVID-19-Fälle aus, wobei etwa ein Prozent aller gemeldeten Fälle unter 10 Jahren und vier Prozent im Alter von 10-19 Jahren liegen“, heisst es auf Falter-Anfrage aus dem Gesundheitsministerium. Hinter Sprengers Ansatz steht die Idee einer kontrollierten Immunisierung der Bevölkerung, die bei jenen, die das Virus am besten „verdauen“, ansetzen sollte. Als Vorbild gilt Schweden, das seine Schulen und Kindergärten (und Geschäfte) gar nie geschlossen hat (siehe nächste Frage).
Die Gegner einer schnellen Schulöffnung, wie Kurz, lehnen die Strategie einer „Herdenimmunisierung“ ab und setzen auf Eindämmung („Containment 2.0“), bis ein Medikament oder Impfstoff vorhanden ist. Das kann allerdings, laut Rot-Kreuz-Bundesrettungskommandant Gerry Foitik, bis zu 18 Monate dauern – damit stünde ein halbwegs normaler Schulstart im Herbst auch infrage.
Aus Sicht der Containment-Anhänger spricht gegen eine rasche Schulöffnung vor allem die schwer einschätzbare Gefährdung der „zweiten Corona-Welle“, die laut jüngsten Simulationen des Covid-Prognose-Konsortiums, bestehend aus Simulationsexperten von der Technischen Universität (TU) Wien und vom TU Wien-Spin-off dwh um Niki Popper, sowie der Medizinischen Universität Wien, dem Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Gesundheit Österreich GmbH, überhaupt erst mit zweiwöchiger Verzögerung spürbar sein wird. Die Maßnahmenlockerungen nach Ostern im Handel lassen sich somit frühestens Ende April evaluieren.
Im Kanzleramt scheut man vor polarisierenden Entscheidungen zurück und blickt deshalb besorgt nach Dänemark, das die Schulen bereits diese Woche öffnete. In Dänemark formierten sich Eltern zu Protestgruppen in Facebook wie „Meine Kinder sind keine Versuchskaninchen für Covid-19“. Auch die Lehrergewerkschafter sind gegen eine rasche Öffnung, sie fordern neben Masken auch schon Plexiglaskobel und wollen sogar die Matura verschieben.
Wie machen es andere Länder?
In Schweden sind Kindergärten und Unterstufenschulen offen geblieben, das Teilnehmen am Unterricht in den Oberstufen wurde freigestellt. Norwegen und Dänemark schlossen ihre Betreuungseinrichtungen, Dänemark hat bereits vorige Woche die Kindergärten und die Unterstufenschulen geöffnet. Die Oberstufen sollen in Kürze folgen. Norwegen begann Anfang dieser Woche damit.
Deutsche Schüler wissen schon heute, dass es bei ihnen – je nach Bundesland, das Schulsystem ist föderal organisiert – ab 4. Mai schrittweise losgehen wird, beginnend mit Abschlussklassen und obersten Grundschulklassen. Auch Island startet ab 4. Mai, Frankreich und die Schweiz vermutlich ab 11. Mai, in den meisten anderen europäischen Ländern – Italien, Spanien, Niederlande, Tschechien, Ungarn – wird wie in Österreich noch abgewartet.
Wie wird der Unterricht ausschauen?
Es wird jedenfalls Maskenpflicht geben, beim Betreten und Verlassen, in den Pausen auf den Gängen, in der Aula – ob auch während des Unterrichts, ist derzeit noch umstritten. Psychologen raten ab. Das Ministerium will es nach Falter-Recherchen nicht, die Lehrergewerkschafter schon. Klassen werden geteilt werden, damit Abstand gehalten werden kann.
Das Ministerium bereitet derzeit verschiedene Varianten vor. 1,1 Millionen Kinder im Pflichtschulalter, also etwa 35.000 Klassen, gilt es zu splitten. So könnte ein Teil der Schüler an drei Tagen für vier Stunden, der andere an zwei Tagen für sechs Stunden kommen – parallel zum digitalen Unterricht, der bleiben wird. Für eine zusätzliche Aufteilung in Vor- und Nachmittagsunterricht fehlen genügend Lehrer. Wichtig ist: Der Unterricht kann aus gesundheitlichen Gründen auch weiterhin nur digital konsumiert werden, aber die Schulpflicht wird aufrecht bleiben. Der Unterricht wird jedenfalls vielfältiger werden, möglicherweise sogar innovativer.
Und was ist mit den Kindergärten?
Sie sind das Stiefkind der Corona-Krise, die 300.000 Kleinkinder haben eine noch schwächere Lobby als Schulkinder. Generell gilt das Gleiche wie für Schulkinder: Jeder, der Betreuungsbedarf hat, soll und darf sein Kind in den Kindergarten bringen.
Die Realität ist eine andere. Gerade einmal zwei Prozent waren es in Wien und anderen Bundesländern zu Wochenbeginn, Vorarlberg meldete vier Prozent. Das liegt auch daran, dass Kindergärten nicht Bundes-, sondern Landessache sind, oftmals privatwirtschaftlich organisiert – und dass jeder Standort die Corona-Maßnahmen anders handhabt. Weil klare politische Vorgaben auch hier fehlen, liegt es an den Eltern, es sich mit ihrem Kindergarten auszuhandeln.
Wer kümmert sich um all die Kinder?
Gefühlte Wahrheit: die Frauen. Aber tatsächlich? Aus der letzten Zeitverwendungsstudie der Statistik Austria – sie liegt mehr als zehn Jahre zurück – wissen wir: Kinderbetreuung ist in Österreich nach wie vor Frauensache. Generell bewegte sich der Zeitaufwand der Männer im Minutenbereich, einzig für das Spielen nahmen sich Väter knapp über eine halbe Stunde täglich Zeit. Und auch das Lernen mit dem Kind ist in Österreich „klassische“ Aufgabe der Mutter: „Mit dem Kind lernen“ wurde von nicht ganz einem Fünftel der Frauen angegeben, während es bei den Männern nur rund sechs Prozent waren.
Verstärkt die Corona-Krise diese Muster – oder sorgt sie für deren Aufbrechen? Aktuelle Studien gibt es dazu noch nicht, das Bildungsministerium hat nur die Stimmungslage zum Thema Home-Schooling und Homeoffice bei den Eltern erhoben, und die ist, wie bereits erwähnt, derzeit noch positiv.
Für Sora-Forscher Daniel Schönherr ist das trügerisch. „60 Prozent der Beschäftigten haben derzeit nicht einmal die Möglichkeit, von zuhause zu arbeiten. Ein Viertel aller Eltern wollte in den letzten Wochen frei nehmen, durfte aber nicht; genauso viele sagen, es kam zu Konflikten mit dem Arbeitgeber, weil ihnen kein Sonderurlaub gewährt wurde“, sagt er. „In Deutschland deuten erste Studien darauf hin, dass es aber wieder die Mütter sind, die ihren Job nachreihen – sie haben im Vergleich zu Vätern eine um sechs Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, weiterhin im üblichen Stundenumfang zu arbeiten, und eine um vier Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, gar nicht zu arbeiten.“