Die Ratten kommen: Hat Wien ein Nager-Problem?
Guten Morgen!
Es gibt schlechte und schlechtere Orte, wo man ihnen begegnen kann: Ich rede von Ratten in freier Wildbahn. Auf offener Straße ist es noch leichter, ihnen aus dem Weg zu gehen. Im eigenen Stiegenhaus wird das schon schwieriger. Sicher, die Tiere sind klug und sozial. Aber besonders appetitanregend ist die Begegnung mit ihnen nie. Man braucht nur an die zahlreichen Krankheitserreger denken, die sich in Ratten einnisten.
Die zahlenmäßig häufigste Säugetierart der Welt fühlt sich auch in Wien pudelwohl. Müll und Kanalisation machen es ihr leicht. An Orten wie dem Keplerplatz oder der Czerningasse sprechen Anwohner sogar schon von einer regelrechten Rattenplage.
Ob das stimmt, wie gefährlich das sein kann und wer uns vor den Tieren beschützt, erzähle ich Ihnen gleich.
Außerdem: Gestern hat das Naturhistorische Museum Wien menschliche Überreste von Angehörigen der indigenen Māori an Neuseeland zurückgegeben. Wie diese überhaupt in Wien gelandet sind, erzählt Ihnen Soraya Pechtl. Und Michael Omasta gibt es heute im Doppelpack: Er weiß wie immer, welche Filme Sie nicht verpassen sollen – und kann Ihnen zusätzlich einen ersten Blick auf die Festivaltrailer der 60. Viennale bieten.
Einen schönen Tag wünscht Ihnen
Simon Steiner
„Wir erleben einen langsamen, stetigen Anstieg”
Die Augenzeugen mehren sich: Auf Wiens Straßen veranstalten Ratten Festessen. Erleben wir eine Rattenplage?
Ein muffiges Kellergewölbe in der Innenstadt: Der Lichtkegel von Matthias Singers Taschenlampe gleitet über uralte Wände und stochert zwischen Holzfässern aus vergangenen Jahrhunderten herum. Das, was er sucht, findet der Kammerjäger zwar nicht – Schleifspuren an den Wänden und Tierkot nämlich. Letztere würde man auch sehr, sehr schnell riechen. Nein, hier scheint alles in Ordnung zu sein.
Nur die zerknüllten Bierdosen auf dem Boden, vermutlich Überbleibsel einer Baustelle, bereiten Singer Sorgen. „Wo die sind, können bald auch Ratten sein”, sagt er mit Detektivblick, als er seinen Kontrollgang protokolliert.
Und Ratten werden in Wien dieser Tage vermehrt gesichtet. An öffentlichen Orten wie dem Schwedenplatz huschen sie nächtens zwischen den Passanten herum, in Gastrozonen wie dem Bermudadreieck sind sie auf Nahrungssuche, selbst am Gürtel tauchen sie zwischen den Autos auf.
Muss Wien eine Rattenplage befürchten?
„Das kann je nach Standort durchaus sein”, sagt Peter Fiedler, Berufszweigvorsitzender der Wiener Schädlingsbekämpfer in der Wirtschaftskammer (WKO): „Wir erleben seit 2004 einen langsamen, stetigen Anstieg der Rattenpopulation.”
Einige Millionen Ratten sollen in Wien leben, die Schätzungen gehen weit auseinander. Die Magistratsabteilungen für Gesundheit, Straßenverwaltung und Stadtparks bekommen nur vereinzelt Sichtungen gemeldet.
Dass die Nager in der Stadt nun besonders sichtbar sind, liege unter anderem an Großbaustellen wie der U2/U5-Erweiterung, so Fiedler. Einerseits wühlen Baumaschinen den Untergrund auf und vertreiben die Ratten aus ihrem angestammten Habitat. Andererseits bietet ihnen den Müll, der sich um die Baugruben ansammelt, eine neue Lebensgrundlage.
„Obwohl die Ratte weltweit die verbreitetste Säugetierart ist, wissen wir über sie und ihren städtischen Lebensraum erstaunlich wenig. Klar ist, dass Ratten wahnsinnig klug und vorsichtig sind”, sagt Amélie Desvars-Larrive. Die Epidemiologin forscht an der Veterinärmedizinischen Universität Wien und am Complexity Science Hub Vienna zu tierischen Infektionskrankheiten und deren Gefahren für die öffentliche Gesundheit.
Besonders für vulnerable Gruppen wie Obdachlose kann der Kontakt mit Ratten schnell problematisch werden. Denn die kleinen Nager tragen und übertragen zahlreiche Krankheitserreger und multiresistenter Keime. „75 Prozent der in Menschen aufkommenden Krankheitserreger sind tierischen Ursprungs ”, sagt Desvars-Larrive. Sie plädiert deshalb für eine Gesundheitspolitik, die solche Zusammenhänge berücksichtigt.
Vorerst sollen uns die Kammerjäger das Schlimmste vom Leib halten. Der Eigentümer des eingangs er wähnten Altbaus in der Innenstadt lässt das Unternehmen ASSA alle zwei Monate in sein Haus kommen.
Wer sich unter einem Kammerjäger-Einsatz nun waghalsiges Hantieren mit tödlichem Gift vorstellt, dürfte enttäuscht sein. Im günstigsten Fall können Matthias Singer und seine Kolleginnen präventiv statt reaktiv arbeiten. Schädlingsbekämpfungsmittel bringen sie anders als früher erst bei konkreten Anzeichen von Befall aus.
Bei der Wahl des Gifts müssen die Fänger den Ratten einen Schritt voraus sein. Denn wenn die Tiere mitbekommen, dass ein Artgenosse an einem Köder stirbt, stellen sie sofort einen Zusammenhang mit der Falle her und beißen selbst nicht mehr an. Deshalb setzen die Kammerjäger Blutverdünner ein, die erst nach einiger Zeit zum Tod durch innere Blutungen führen.
Dass die Rattenpopulation zurückgeht, nur weil die derzeitigen Großbaustellen abgeschlossen sind, glaubt Fiedler nicht: „Die Arbeit wird uns deswegen nicht ausgehen.”
Trotzdem legt er auf eines Wert: Im Vergleich zu berüchtigten Rattenmetropolen wie New York ist das Wien unter unseren Füßen noch unbedenklich. Im hiesigen Altbaukeller macht findet man eher Relikte aus längst vergangenen Zeiten als Rattenkot. Gegen böse Überraschungen sollte man alte Bierdosen halt gleich entsorgen.