»Wenn man sich derzeit zur Pandemie über die meist besuchten Webseiten informieren will, kommt man aus dem Staunen nicht mehr hinaus, weil die Erfassung der Todesfälle in geradezu absurder Manier dargestellt wird. Das ist auf der Webseite von Our World in Data und auf vielen akademischen Webseiten, wie die der Johns Hopkins University oder die des Schweizer Data Science Center oder auf der Website der ETH Zürich der Fall: Österreichs aktuelle Covid-Todesfälle sind die höchsten der Welt. Weil die Nachmeldungen von Todesfällen über das Gesundheitsministerium offensichtlich verhunzt in die Daten eingespeist wurden. Vor drei Tagen habe ich verärgert dem Gesundheitsministerium unterstellt, „Flooding the Zone with Shit“ zu betreiben. Mit einem solchen Attribut habe ich zwar noch nie etwas in meinem Leben charakterisiert, weshalb eigentlich eine Entschuldigung meinerseits angebracht wäre.
Diese vielen Nachmeldungen der Todesfälle haben die Konfusion von Tag zu Tag eher vergrößert, sodass inzwischen die Mentalität „Pandemie-Vorbei-Also-Eh-Schon-Alles-Wurscht“ vorherrscht. Dass es keine Aufklärung durch das Ministerium gab, untermauert meine These, dass dieses den Diskurs ins Lächerliche ziehen will, letztlich einen inhaltvollen Diskurs damit zerstören, so nach dem Motto, passiert doch überall und ist somit das Normalste auf der Welt. Indirekt wird einem die Botschaft vermittelt, man sollte dieses Starren auf Zahlen doch bleiben lassen. Auch die Opposition (die Gesundheitssprecher von NEOS und SPÖ haben mit nichtssagenden Plattitüden geglänzt) und die Medien haben alles andere als die Sachlage aufgehellt, sondern irgendwelche Säue durchs Dorf getrieben. Hier ein Versuch der Seuchenkolumne, die Aufhellung nachzuholen.
Beginnen wir mit einer aktuellen Darstellung der täglichen Todesfälle (7-Tage Durchschnitt) durch Our World in Data, wo die absurde (und natürlich falsche!) hohe Sterblichkeit Österreichs ins Auge sticht. Dabei haben die für diese krassen Auslenkungen zugrunde liegenden Zahlen nur etwa die Hälfte der Nachmeldungen berücksichtigt (sorry für die unangebrachte Verstärkung der Konfusion, Aufklärung weiter unten), sonst hätte Österreich eine Sterblichkeit wie sie in der ganzen Pandemie von keinem Land je erreicht wurde. Es ist nur die Hälfte, weil ein paar Bundesländer dem Gesundheitsministerium nicht erlauben, die Zahlen zu harmonisieren. Der Gesundheitsminister betont ja immer wieder die Existenz der „Realverfassung“.
Um die Erfassung von Todesfällen und Todesursachen näher zu erläutern, sei ein Rückblick auf das Frühjahr 2020 erlaubt. In Österreich wurde (mehr als anderswo) nämlich von Anbeginn an der Tod durch Covid relativiert, durch falsche Gewichtung der Diskussion ob jemand AN oder MIT Corona gestorben sei. Die Beurteilung von Todesursachen ist mein Spezialgebiet, deshalb war ich der Meinung, es könnte nützlich sein, sich da einzumischen. Also schrieb ich Mitte April eine schnippische Mail an die Mitglieder der Task Force des Gesundheitsministeriums über die gleichzeitige Verwendung unterschiedlicher Todesfallzahlen auf zwei ihrer Webseiten (einmal die AN Corona Verstorbenen und einmal die AN und MIT zusammen gezählt). Die Mail endete mit „Kann man mit solchem unanständigen Unsinn aufhören und den Regeln der Epidemiologie folgen?“ Daraufhin gab es ein paar Antworten, unter anderem auch aus dem Kabinett von Bundesminister Rudolf Anschober. Dem antwortete ich am 17. April 2020 (bis auf die Anonymisierung, im Original):
„Sehr geehrter Herr XY!
Danke für Ihre prompte Antwort! Und für Ihr Verständnis meiner Kritik gegenüber, allerdings blieb der, zugegebenermaßen versteckte, Inhalt meiner Kritik unbeantwortet. Deshalb möchte ich diesen Inhalt, durchaus sehr verkürzt, beleuchten.
I Wissenschaftlich wird bei Todesursachen prinzipiell zwischen immediate cause, underlying condition (condition that initiated the train of morbid events) und contributing cause unterschieden. Belastbare Daten zu Todesursachen in größerem Maßstab gibt es im Wesentlichen nur für underlying condition (entspricht etwa dem bei uns gebräuchlichen Begriff Grundleiden). Aber selbst die Bestimmung des „Grundleidens“ ist bei einigen Erkrankungen und Bevölkerungsgruppen ein schwieriges Unterfangen, in Einzelfällen schier unlösbar, weshalb in der klinischen Epidemiologie die all-cause-mortality immer eine zentrale Rolle spielt, besonders bei Krankheitsausbrüchen oder gar neuen Erkrankungen.
Eine disease-specific mortality muss für Covid-19 aus wissenschaftlicher Sicht derzeit unvollständig bleiben, weil viele pathophysiologischen Zusammenhänge dieser Erkrankung noch nicht oder unzureichend erforscht sind. Als ein Beispiel kann hier die myokardiale (Anm. Herzmuskel) Beteiligung bei Covid-19 dienen, wo nicht nur eine Covid-19 bedingte Verschlechterung einer vorbestehenden kardialen Erkrankung zutreffen kann, sondern selbst eine Verwechslung eines klassischen Myokardinfarktes mit Covid-19 zu bedenken ist.
II Surveillance: „Jede verstorbene Person, die zuvor COVID-positiv getestet wurde, wird in der Statistik als „COVID-Tote/r“ geführt“, steht in der Fußnote hier. Das entspricht der all-cause-mortality und ist selbstredend korrekt – auch wenn das immer wieder als unrichtig oder irreführend insinuiert wird! Aus Sicht der Surveillance gibt es, jetzt und in den nächsten Monaten, keinen Grund eine Surveillance für Disease-Specific-Mortality einzuführen. Und ganz abwegig ist eine solche Disease-Specific-Mortality Surveillance bei Covid-19 in den Händen der Bezirksverwaltungsbehörden. Dazu müsste es ausgefeilte Definitionen und Protokolle zu den Todesursachen bei Covid-19 geben, was (siehe oben) schlicht unmöglich ist. Auch ein Bezug auf ECDC (von hier) hilft nicht weiter, ECDC will fatal outcome erfasst wissen.
„Mortality surveillance. While the surveillance of fatal outcome among hospitalised confirmed COVID-19 cases remains important and will be relatively feasible, it may not reflect the true magnitude of COVID-19-related mortality in a population. Elderly people may die outside of hospital settings, e.g. in long-term care facilities (LTCF), as already observed in a number of Member States.“
Sterbefälle bei Bewohnern von Pflegeheimen mit Symptomen einer Covid-19 Erkrankung aber ohne bestätigten Nachweis von SARS-CoV-2, die aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu bestätigten Covid-19 Erkrankten lebten, könnten mit mehr Recht in eine Surveillance aufgenommen werden, als die wissenschaftlich unhaltbare Erfassung der „an Covid-19 Verstorbenen“ (siehe Bild unten) durch die Bezirksverwaltungsbehörden. Das machen zum Beispiel andere Länder.
ECDC und die Johns Hopkins Covid-19 Dashboard (zeigen am 17.4. vormittags die gestern hier registrierten 410 Fälle. Also das funktioniert wie gewohnt weiter.
III Menschenwürde. Als die ersten Todesfälle bei Patienten mit Covid-19 in Österreich auftraten keimten sofort Diskussionen auf, die entweder die Todesursache in Frage stellten oder die „Vorerkrankungen“ überbetonend in den Vordergrund rückten. Besonders erinnern kann ich mich an jene 48-jährige Wienerin, die „überraschend schnell“ zuhause verstarb, hier war es immerhin so, dass die Patientin obduziert wurde und der Tod offensichtlich klar in Zusammenhang mit Covid-19 stand. Später war dann plötzlich zu erfahren, dass es hier eine schwerwiegende Vorerkrankung vorlag, aber jede Erklärung, wieso die Patientin nicht in einem Krankenhaus versorgt werden konnte, fehlte. Es waren dann noch ähnliche Fälle in anderen Bundesländer. Besonders in Erinnerung blieb mir ein älterer aber nicht betagter, Mann aus St. Anton, der ebenfalls zuhause verstarb. Anstatt Versorgungsaspekte zu beleuchten, wurde berichtet, dass die Todesursache erst geklärt werden müsste.
Auch in der Beschreibung hier wird die „Mit-und-an verstorben“ Diskussion unnötig breit getreten. „Jede verstorbene Person, die zuvor COVID-positiv getestet wurde, wird in der Statistik als „COVID-Tote/r“ geführt, unabhängig davon, ob sie direkt an den Folgen der Viruserkrankung selbst oder „mit dem Virus“ (an einer potentiell anderen Todesursache) verstorben ist.“
In diesem Sinne hoffe ich, Ihnen das Alleinstellungsmerkmal der All-Cause-Mortality bei Covid-19 hinreichend dargetan, und auch Sensibilität den Verstorbenen gegenüber geweckt zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Robert Zangerle“
ENDE MEINER DAMALIGEN ANTWORT
Darauf kam natürlich keine Antwort mehr. Im August 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuletzt einen COVID-19-Todesfall für Erfassungszwecke (Surveillance) als Tod infolge einer klinisch kompatiblen Krankheit in einem (wahrscheinlichen oder) bestätigten COVID-19-Fall definiert. Es sei denn, es gibt eine eindeutige alternative Todesursache, die nicht mit der COVID-19-Erkrankung in Verbindung gebracht werden kann (z. B. Trauma, Autounfall, Mord). Zwischen Krankheit und Tod darf keine Zeit der vollständigen Genesung liegen. Das European Center for Disease Prevention and Control (ECDC) ergänzt das noch durch den Zusatz „Ein Todesfall aufgrund von COVID-19 darf nicht auf eine andere Krankheit (z. B. Krebs) zurückgeführt werden und sollte unabhängig von Vorerkrankungen gezählt werden, die im Verdacht stehen, einen schweren Verlauf von COVID-19 auszulösen“ . WHO und ECD sind für Österreich normierend, Abweichungen davon müssten besonders begründet und vor allem kommuniziert werden.
Covid-Todesfälle und deren Erfassung sind längst definiert, also ging es bei den Nachmeldungen um etwas anderes als deren Umsetzung. Um was genau? Um einen Abgleich zwischen dem nationalen Sterberegister (Statistik Austria) und dem Epidemiologischen Meldesystem (EMS). Für die Auswertung der Todesursachen ist die Statistik Austria zuständig. Die Statistik Austria wertet dazu die Totenscheine aus, die von Ärztinnen und Ärzten nach der Totenbeschau ausgestellt werden. Wobei allgemein für die Todesursachen das Grundleiden (siehe oben) herangezogen wird, das unmittelbar zum Tod führte, etwa Krebs, Herzinfarkt – oder Covid-19. All diese Diagnosen können auch nur als Begleiterkrankung vorliegen. In der Realität ist die Abgrenzung gerade auch bei hochbetagten, multimorbiden Personen oft schwierig. In das Epidemiologische Meldesystem, kurz EMS, müssen grundsätzlich sämtliche Covid Todesfälle nach WHO und ECDC Definition eingetragen werden. Das ist sogar gesetzlich vorgeschrieben.
Bei einem Abgleich zwischen Statistik Austria und EMS kommt auf einmal der Abstand zwischen Diagnose der Infektion mit SARS-CoV-2 und dem Tod wieder ins Spiel, obwohl der nach der WHO Definition ganz streng genommen im August 2020 wieder entfernt wurde, solange „no period of complete recovery between the illness and death“ vorgekommen ist. Für einen Abgleich zwischen Sterberegister und Surveilllance Tools ist es international üblich, mit einem Zeitfenster von 28-30 Tagen zu arbeiten, ansonsten wäre man auf die Diagnose der Totenbeschauer angewiesen, die doch in vielen Fällen bei Personen mit komplexen Erkrankungen und/oder multimorbiden Betagten immer wieder problematisch ist, allein weil immediate cause und underlying cause vermischt werden oder per se schwierig auseinanderzuhalten sind.
Das, was also jetzt mit diesem Abgleich passiert ist, ist zuerst ein ganz normaler Vorgang. Aber es gibt ein paar ganz wichtige Fragen: