Erfahrungen aus COVID-19: Wer den Mund aufmacht, verliert
Kommentar von STEFAN THURNER
Wissenschaft im Normalmodus hat die Aufgabe, nachprüfbare Erkenntnisse zu produzieren, die so korrekt sind, dass andere darauf aufbauen können. Für die dazu notwendige Qualitätssicherung scheut sie weder Mittel noch Mühen. Zeit spielt keine Rolle. Soll Wissenschaft aber Beiträge zu Krisengeschehen leisten, fehlt genau diese Zeit zur Qualitätssicherung, man muss ihre Komfortzone verlassen.
Als Mitte Februar klar wurde, dass die COVID-19-Krise gemanagt werden muss, idealerweise auf Faktenbasis, beschlossen viele Fachleute, lieber nichts zu sagen. Mit gutem Grund. Denn wer in unsicheren Situationen den Mund aufmacht, kann eigentlich nur verlieren: Si tacuisses, philosophus mansisses.
Am Complexity Science Hub CSH Vienna haben sich dennoch viele dem Stress und Risiko ausgesetzt, in den Krisenmodus zu wechseln, um Verantwortung zu übernehmen und die Bevölkerung und Entscheidungsträger zu informieren. Am 11. März erklärten wir, dass die Infektionskurven exponentiell verlaufen und die Kapazitäten der Intensivbetten bei gleichbleibendem Wachstum Anfang April erreicht wären.
Am 21. März berichteten wir, dass der Lockdown wirkt und dadurch der Bettenengpass in die Zukunft verschoben ist. Am 26. März wagten wir die Prognose eines Bedarfs von 300 bis 400 Intensivbetten Anfang April, weit unter den damaligen Kapazitäten. Das Maximum wurde am 8. April mit 276 Intensivbetten erreicht. Doch egal, was wir kommunizierten, wurden wir als Unheilspropheten beschimpft oder, nach einer extrem vorsichtigen Andeutung von Optimismus Ende März, als Wahnsinnige, die alle ins Unheil stürzen wollen.
Am 16. März stellten wir den CSH für sechs Wochen auf CoronaModus” um und stellten alle wissenschaftlichen Arbeiten ein, um an achtzehn Challenges” als nützliche Beiträger zur Krise zu arbeiten. Fast alle hatten mit großen Datensätzen zu tun. Damals konnten wir den vielleicht größten Flaschenhals auf dem Weg zur Digitalisierung hautnah erleben: Selbst wenn Dateneigentümer Daten zur Verfügung stellten und Datenschutzprobleme gelöst waren, ließen sich viele Challenges nicht umsetzen, weil große Unsicherheiten beim Umgang mit und beim Austausch von Daten bestehen. Digitalisierung braucht also vor allem eine Kultur des Datenumgangs, bei dem niemand Angst haben muss, etwas falsch zu machen.
Zu Anfang war das primäre Ziel, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Nachdem das erreicht war, hat man meiner Meinung nach versäumt, ein Ziel für den Sommer zu definieren: nämlich logistische Strukturen im Gesundheitssektor für eine Testdauer von maximal einem Tag und Contact-tracing von zwei Tagen. Mit dem Ziel, die Seuche logistisch, ohne Impfstoff, vollkommen unter Kontrolle zu bekommen.
Schade, dass wir Experten es verpasst haben, Kompetenzen aus verschiedenen Gesundheitsstellen, Behörden, Universitäten und Unternehmen zusammenzubringen, um trotz Kompetenzchaos und Föderalismuswahnsinn im Gesundheitssystem einen logistischen Vorschlag zu erarbeiten, den man jetzt diskutieren könnte. Haben wir auf einen Auftrag von einer öffentlichen Stelle gewartet? – Vielleicht müssen wir es nächstes Mal ohne Auftrag einfach aktiv und eigeninitiativ versuchen.