Epidemiologe Robert Zangerle erklärt, warum es naiv ist, dauernd von der „Milde der Omikron-Variante“ zu reden. Warum die Entscheidung der Regierung für ein Durchlaufenlassen der Omikron-Welle alles andere als risikolos ist. Warum die Übersterblichkeit auch von Nicht-Corona-Toten mit Corona zu tun hat. Und warum es bei allem auf das Verhalten der Bevölkerung ankommt. A. T.
»Gestern gab es zwei besondere, weil kontrastierende, Pressekonferenzen, die eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die andere von der österreichischen Bundesregierung. Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Direktor der WHO, versuchte in seiner Eröffnungsrede einmal mehr darauf hinzuweisen, dass 2021 geprägt war von der Ungleichheit in der Versorgung mit Impfstoffen und ganz generell von einer Ungleichheit der medizinischen Versorgung. Solange das anhalte, könne die Pandemie nicht beendet werden. Und vor allem warnte er davor, den Krankheitsverlauf durch eine Infektion mit der Virusvariante Omikron als mild zu bezeichnen, denn selbst wenn dieser Verlauf im Vergleich zu einer Infektion mit Delta, besonders bei Geimpften, weniger schwer sei, so führen Infektionen mit Omikron zu Hospitalisationen und Tod und deshalb aufgrund der schieren Zahl an Fällen zur Überlastung der Gesundheitssysteme weltweit, auch in einkommensstarken Ländern.
Die österreichische Bundesregierung sieht das anders, wie sie es in der Pressekonferenz vom 6. Jänner verlautbarte. Sie setzt darauf, dass die neue Virusvariante weniger gefährlich ist und man sich deshalb einen weiteren Lockdown ersparen kann, auch wenn es dafür keine Gewissheit gebe. Schließlich habe man strenge Regeln, wie 2G für Zugänge zu allem außer Supermärkten und Apotheken und 3G am Arbeitsplatz. Es mutet ein wenig surreal an, wenn gedroht wird, dass diese Regeln jetzt aber wirklich kontrolliert werden, obwohl im Netz bis zum Erbrechen Videos kursieren, die das Gegenteil belegen. Das Eigenschaftswort mild wurde dabei so oft in den Mund genommen, dass ich befürchte, dass ist das Einzige, das im Gedächtnis bleiben wird.
Natürlich erklärte auch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, dass Omikron milder verlaufe als die zuvor vorherrschende Delta-Variante. Musste bisher einer von vier im Spital liegenden Corona-Patienten auf die Intensivstation verlegt werden, sei es bei Omikron nur noch einer von zehn. Allein solche vorläufige Zahlen aus Großbritannien unreflektiert 1:1 zu übernehmen, ohne den Immunisierungsgrad der vulnerablen Bevölkerung in Betracht zu ziehen, irritiert. Ist das die menschliche Variante der Grünen von Flooding the zone with shit? „Das ist aber keine Entwarnung“, versuchte Mückstein seine Aussage zukunftssicherer zu machen. So könne Omikron wegen der hohen Ansteckungsrate dazu führen, dass die kritische Infrastruktur gefährdet sei. Dabei ging er nicht auf die dringendste Gefährdung der Infrastruktur, für die Minister Mückstein besondere Verantwortung trägt, ein: es ist nämlich damit zu rechnen, dass Normalpflegestationen der Krankenhäuser und ambulante Versorgungsstrukturen (Praxen, Ambulanzen, Tageskliniken) überlastet werden – nicht „nur“ die Intensivstationen.
Was war noch einmal die Ausgangslage? Am besten wird sie vom Policy Brief vom 3. Jänner des Complexity Science Hub (CSH) beschrieben, Autoren Peter Klimek und Stefan Thurner. „Bislang verfolgte Österreich eine Strategie der Abflachung in der Pandemiebekämpfung. Dabei wurde das Infektionsgeschehen erst nachhaltig mit nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (Lockdowns) gesenkt, als in den Spitälern definierte Kapazitätsgrenzen in den Intensivstationen erreicht wurden. Mit Omikron könnte der Fall eintreten, dass dieser Ansatz obsolet wird, da andere Kapazitätsgrenzen in kritischen Infrastrukturen früher erreicht werden könnten.“ Damit meinten sie jetzt aber nicht Skischulen oder Krematorien, sondern zum Beispiel Normalpflegestationen der Krankenhäuser und ambulante Versorgungsstrukturen.
Mit einer Überlastung der Intensivstationen rechnet weder die Ampelkommission noch die GECKO, weil sich der Anteil der doppelt geimpften und der jüngeren Personen am Infektionsgeschehen erhöht, was zu einer effektiven Senkung der ICU-Rate führe. „Es bestehe aber weiterhin eine Unsicherheit, denn aufgrund fehlender Datenverknüpfungen von Spitalsaufnahmedaten und dem epidemiologischen Meldesystem könnten für Österreich keine Auswertungen der tatsächlichen Hospitalisierungsraten gemacht werden.“ Das ist für Leser der Seuchenkolumne ein alter Hut, aber das Prognosekonsortium leidet darunter. Wieso führt man nicht endlich Meldepflicht bei im Krankenhaus aufgenommenen Patienten mit Covid ein?
In ihrem Policy Brief beschreiben die Forscher vom CSH drei Strategien in der Bekämpfung der Pandemie, wobei eine Containment Strategie, also eine Verhindern der Welle längst keine Möglichkeit mehr darstellt, weil sie bereits läuft. Die beiden anderen Strategien sind Abflachen der Kurve oder ein Durchlaufenlassen („Durchseuchung“). Offenbar hat die Regierung jetzt das Durchlaufenlassen gewählt. Die nicht als Zentralorgan der Opposition bekannte Presse tituliert in ihrem Leitartikel (Paywall) nach der Pressekonferenz: „Durchseuchung statt Impfpflicht? Ein gefährliches Kalkül“. Im Vordergrund der jetzt getroffenen Beschlüsse der Regierung standen nämlich Aufweichungen der bisherigen Regeln, insbesondere bei der Quarantäne von Exponierten und Isolation von Infizierten. Lediglich die Ausweitung der Maskenpflicht auf das Freie stellt eine Verschärfung dar. „Nehmen wir die Empfehlungen der Expertinnen und Experten ernst“, so Bundeskanzler Karl Nehammer auf diesen unausgegorenen Mix der Beschlüsse. Ob es jetzt Expertinnen und Experten gibt, die sich nicht so ernst genommen fühlen?
Die mögliche, und sinnvollere, aber leider nicht gewählte Strategie der Abflachung hätte nicht das Ziel, eine Durchseuchung der Bevölkerung zu verhindern, sondern diese lediglich so zu verzögern, dass definierte Kapazitätsgrenzen nicht überschritten werden. Bei der Omikron-Variante müssten diese Kapazitätsgrenzen neu definiert werden, da eine Überlastung des Gesundheitssystems nicht notwendigerweise zuerst durch eine Überlastung der Intensivstationen erwartet wird, sondern auch durch eine Kombination aus dem Ausfall von Gesundheitspersonal durch Infektion oder Quarantäne, gleichzeitig mit einem erhöhten Patientenaufkommen im Bereich der Normalpflege erreicht werden könnte. Diese neuen Kapazitätsgrenzen müssten jetzt – das heißt im Vorhinein – definiert werden, um aktives Eingreifen zu ermöglichen, bevor es zu Systemüberlastungen kommt. Das geschieht nicht einmal in Ansätzen. Abflachung wozu?
Nach dem CSH könnte sich bei einer Abflachung der Kurve eine Verlängerung des Herunterfahrens des medizinischen Systems ergeben, weil eine erhöhte Übersterblichkeit seit Oktober (3200 Todesfälle) nach Abzug von 2000 Covid Todesfällen immer noch 1200 Todesfälle ausweist, die Folge eines über längere Zeit heruntergefahrenen Medizinsystems gewesen sein könnten. Ich würde auch bei diesen Todesfällen einen Teil Covid zuordnen, da mir Fälle bekannt wurden, die nicht als Covid Todesfälle gemeldet wurden bzw. als solche nicht gewertet wurden (darunter auch ein großer Ausbruch in einem Pflegeheim), weshalb eine protrahierte Belastung einer krassen Überlastung mit Feldlazaretten vorzuziehen wäre.
Die dritte „Strategie“ des Durchlaufenlassens oder gar „Durchrauschenlassens“ (eigentlich eine schlimme Wortwahl) besteht darin, dass keine staatlichen Maßnahmen zur Abflachung der Omikron Welle getroffen werden. Je nach der effektiv gelebten Verantwortung der Bevölkerung wird die Welle dann mehr oder weniger hoch. Bei dieser Strategie gilt es nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch alle anderen kritischen Infrastrukturen auf mehrere mögliche Szenarien vorzubereiten, in denen Personal durch Krankheit oder Quarantäne ausfallen. Die Quarantäneregeln selbst müssten dynamisch und antizyklisch an die Infektionsdynamik angepasst werden, um die Funktionalität kritischer Infrastrukturen sicherstellen zu können, also bei hohen Fallzahlen kürzere Quarantäne und umgekehrt. Ein Übertreffen des bisherigen Höchststandes an Covid-Krankenhauspatienten ist dann aber ziemlich wahrscheinlich. In welchem Bereich diese Überlastung zuerst eintritt (Personal, Normalpflege, Intensivpflege), ist nach den Modellierungen des CSH nicht klar.
Wieso gibt es auf einmal so viel mehr Infektionen? Eine wesentliche Eigenschaft der Omikron-Variante ist die Immunflucht. Das heißt, dass Omikron in viel stärkerem Ausmaß als alle bislang bekannten Varianten zu einer symptomatischen Infektion führen kann, obwohl man bereits geimpft oder genesen ist. Die folgende Grafik zeigt eine modellbasierte Schätzung der „Immunschutzwand“. Am deutlichsten sieht man eine Vergrößerung des gelben Anteils zwischen Delta und Omikron, also die wachsende Gruppe derer, bei denen kein Schutz durch Impfung oder Genesung mehr besteht. Bei Omikron kommt dieses Modell auf einen Schutz von 30% der Bevölkerung vor einer symptomatischen Infektion mit Omikron durch die Impfung, von etwa 12% durch Genesung. Der restliche Anteil ist immunologisch naiv (weiß in der Grafik), hatte also weder Kontakt mit dem Virus noch zumindest eine Impfung. Dieser Anteil ist zuletzt natürlich identisch zwischen Delta und Omikron. Der effektive Impfschutz und dessen Abnahme je nach Dosis und Zeit seit Impfung werden aufgrund von Analysen aus Großbritannien modelliert. Die Dunkelziffer durchgemachter Infektionen wurde mit 150% angenommen (also 1,5 nicht identifizierte auf 1 identifizierten Fall).