Spielregeln

 

Sozialwissenschaftler erforschen das Verhalten von Menschen in Videospielen – und entdecken etwas sehr Politisches: das Verlangen nach einem Sozialstaat.

Von Justus Bender

Wenn Sozialforscher wissen wollen, wie Menschen ticken, müssen sie ihnen am Telefon langatmige Fragebögen vorlesen oder sie in der Fußgängerzone ansprechen. Sie können die Gesellschaft nicht einfach durchleuchten. Sie können Menschen keine elektronischen Halsbänder anlegen, wie Biologen das mit Zugvögeln machen. Die Forscher könnten bei Mark Zuckerberg in Kalifornien anrufen und ihn fragen, ob er Facebook-Daten über alle Menschen und ihre Beziehungen rüberschickt, aber dann gäbe es einen großen Aufschrei, und die Forscher würden mit dem Ministerium für Staatssicherheit verglichen werden. Wahrscheinlich wäre es auch illegal. Vor Jahren gab es große Aufregung, weil eine Firma namens Cambridge Analytica bei Facebook viele Daten gesammelt hatte, um gezielt Wahlwerbung zu machen. Die Forscher haben also immer ein Erkenntnisproblem, es sei denn, sie schauen Leuten zu, wie die Videospiele zocken. Dort spielen echte Menschen gegeneinander, sie führen Kriege, treiben Handel, sie sprechen miteinander, sie organisieren sich, es ist wie in einer echten Gesellschaft, nur mit einem Unterschied: Für anonyme Kampfastronauten auf Jupitermonden gibt es keinen Datenschutzbeauftragten. Alles wird aufgezeichnet, jede Bewegung, jede Interaktion. Es ist ein Paradies für Forscher.

 

Im neunzehnten Jahrhundert erfand der Mathematiker Auguste Comte die Soziologie, anfangs nannte er sie „soziale Physik“. Er wollte die Gesellschaft beschreiben wie die Planetenbahnen, mit Zahlen und Formeln. Das blieb ein Traum, Comte musste damals scheitern. Wie sollte er Buch führen über das Verhalten Hunderttausender Menschen? Zwei Jahrhunderte später will der Wiener Komplexitätsforscher Stefan Thurner, Österreichs Wissenschaftler des Jahres 2017, es noch einmal versuchen und aus der Soziologie eine Naturwissenschaft machen, eine „virtuelle Sozialwissenschaft“, mit Hilfe von Computerspielen. (…)