Ob sich in der Rückschau die Ausbreitung eines bewaffneten Konflikts mit statistischen Methoden nachzeichnen lässt, haben in Wien tätige Komplexitätsforscher anhand von Daten aus Afrika aus den vergangenen Jahrzehnten untersucht. Mit ihrer neuen Methode sei dies möglich, berichten sie im Fachblatt “PNAS Nexus”. Dort vergleichen sie die Ereignisabfolgen mit “Lawinen”, für die vor allem Ballungsräume eine zentrale Rolle als Beschleuniger spielen.
In der historischen Betrachtung stellen sich Kriege oft als in sich relativ geschlossene Ereignisketten dar. Das ist etwa beim Blick auf den “Ersten Weltkrieg”, mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand als Auslöser und den darauf folgenden Ereignissen, noch einigermaßen nachvollziehbar. Das passt aber weniger gut auf über längere Zeit schwelende Auseinandersetzungen mit paramilitärischen oder Terrorgruppen wie den islamistischen “Boko Haram”- oder “Al-Shabaab”-Milizen in verschiedenen Gegenden Afrikas.
Der Mathematik hinter der Ausbreitung verschiedener kriegerischer Konflikte gingen nun Niraj Kushwaha und Eddie Lee vom Complexity Science Hub (CSH) in Wien nach. Sie griffen dazu auf Daten zurück, die vom “Armed Conflict Location & Event Data Project” (ACLED) über Jahre hinweg gesammelt wurden. Dabei konzentrierten sich die Wissenschafter auf den Zeitraum zwischen 1997 und 2019 in Afrika. Anlässe zur Analyse gab es dort leider zur Genüge.
Die Forscher wollten feststellen, ob zeitlich und geografisch mehr oder weniger zusammenhängende Ereignisse mit statistischen Methoden nachvollzogen werden können. Dazu setzten sie Methoden aus der Physik und Biophysik ein, mit denen sonst Zerfallserscheinungen in Materialien oder Entladungsmuster von Gehirnzellen beschrieben werden, wie es in einer Aussendung des CSH heißt. Aus der Rückschau könnten sich möglicherweise einmal Prognosen zur möglichen Ausbreitung von aufkeimenden bewaffneten Konflikten ziehen lassen, so die Idee der Wissenschafter.
Letztlich verglich das Team die mathematischen Vorhersagen, in welcher Region zu welchem Zeitpunkt am wahrscheinlichsten ein weiterer Konflikt aufflammt, damit, wie sich die Kämpfe tatsächlich entwickelt haben. Dabei fand sich meist ein Muster, das jenem von Schnee- oder Sandlawinen ähnlich war, schreiben die Wissenschafter in der Arbeit. Sie sprechen hier von “Kasakadeneffekten”.
In den meisten Fällen entwickelten sich diese Muster mit ihren fatalen Auswirkungen über Zeiträume von einer Woche bis zu ein paar Monaten. Dabei legten die Auseinandersetzungen Distanzen zwischen 60 und 400 Kilometer von ihrem Ausgangspunkt zurück. Je nach untersuchtem Land oder Region hängten diese Entfernungen stark damit zusammen, wie weit dort Ballungsräume mit 100.000 bis einer Millionen Einwohnern auseinanderliegen. Solche dicht besiedelten Gebiete fungieren demnach als “wichtige geografische Ankerpunkte” für Konflikte.
In der Folge verglichen die Wissenschafter ihre Methode mit Analysen zu den historischen Abläufen von Auseinandersetzungen im Osten Nigerias, in Somalia und Sierra Leone. Diese gelten als sehr gut untersucht. Die Ergebnisse passten demnach erstaunlich gut, schreiben die Komplexitätsforscher in ihrer Publikation.
So erkannte die statistische Methode Zusammenhänge zwischen den Konflikten rund um die beiden Gruppierungen Boko Haram und die Fulani-Miliz in Nigeria nur aufgrund der Datenanalyse. Das passt zu den zeithistorischen Befunden. Ebenso quasi richtig erkannt wurde das teilweise Überschwappen von Auseinandersetzungen in Sierra Leone in das benachbarte Liberia.
Laut den Autoren könnte ihr Ansatz dabei helfen, sonst schwer erkennbare Muster in Auseinandersetzungen zu erkennen oder die weitere Entwicklung von Konflikten ein Stück weit vorherzusehen. So könnten vielleicht “politische Entscheidungen effektiver getroffen werden, beispielsweise darüber, wo es welche Ressourcen braucht”, so Kushwaha.