Frauen mit Diabetes brechen Therapie öfter ab als Männer
Eigentlich sind Frauen diejenigen, die häufiger zum Arzt gehen. Nicht so bei Diabetes. Sie unterbrechen ihre Therapie öfter als Männer. Dafür gibt es viele Gründe
Diabetes ist eine Volkskrankheit. So weit, so klar. Doch genaue Zahlen, wie viele Menschen in Österreich betroffen sind, und vor allem, wie viele pro Jahr neu erkranken, gab es bisher nicht. Für Angaben zur Häufigkeit war man auf Umfragen und Schätzungen aus kleinen Stichproben angewiesen. Nun wurde erstmals in einer nationalen wissenschaftlichen Untersuchung zur Diabetes-Inzidenz die genaue Zahl der Betroffenen erhoben. Die Studie der Med-Uni Wien und des Complexity Science Hub Vienna ist soeben im Fachjournal Scientific Reports erschienen. Bei der Erhebung hat man außerdem eine unerwartete Erkenntnis gewonnen: Ein Drittel der Diabetikerinnen und Diabetiker in Österreich bricht ihre Therapie, zumindest vorübergehend, ab.
Insgesamt 746.184 Personen mit Diabetes Typ 2 konnten erfasst werden. Für die Untersuchung wurden die Zahlen all jener Personen herangezogen, die zwischen 2012 und 2017 eine medikamentöse, antihyperglykämischen Diabetes-Behandlung zur Senkung des Blutzuckers erhalten haben und/oder sich einer ärztlichen Überwachung des Blutzuckerwerts (HbA1c) unterzogen haben. Menschen unter 50, die Insulin spritzen müssen, wurden bei den Zahlen nicht berücksichtigt: “So können wir davon ausgehen, dass wir primär Typ 2-Diabetes-Betroffene erfasst haben”, berichtet die leitende Studienautorin Alexandra Kautzky-Willer, Internistin und Professorin für Gendermedizin an der Med-Uni Wien. Diabetes Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, er manifestiert sich üblicherweise bereits in jüngeren Lebensjahren, Betroffene müssen ausnahmslos Insulin zuführen, da es die Bauchspeicheldrüse nicht mehr oder nur noch in sehr geringem Ausmaß produziert.
Die Studie konnte auch die Annahme entkräften, dass die Diabetes-Inzidenz in den vergangenen Jahren zugenommen habe. “Bei der Analyse wurden nur Erstbehandlungen berücksichtigt, jene Personen, die ihre Behandlung für einen längeren Zeitraum unterbrochen hatten, wurden bei der Wiederaufnahme der Therapie herausgerechnet, also nur einmal gezählt. Dadurch wurde klar, dass es keine statistisch signifikante Steigerung der Zahlen gab. So haben wir aber auch die erstaunlich große Gruppe entdeckt, die sich eben nicht durchgehend behandeln lässt”, berichtet Kautzky-Willer.
Zu wenig Kommunikation, zu viele Nebenwirkungen
Das sind immerhin 268.680 Personen. Über die Gründe kann man nur spekulieren, sagt Kautzky-Willer, es dürfte ein ganzes Potpourri an Ursachen sein. Einer der wichtigsten Gründe ist sicher mangelhafte Kommunikation und Aufklärung: “Der Patient oder die Patientin muss beim ersten Verordnen verstehen, was dieses Medikament bewirkt, wie es eingenommen wird und was eine Unterbrechung bedeuten kann. Man sollte auch einen Behandlungsplan beziehungsweise bestimmte Zielwerte, die man erreichen will, vereinbaren. Wenn Betroffene wissen, worauf sie hinarbeiten, ist die Therapietreue viel besser. Aber all das kostet natürlich Zeit, und die ist oft nicht ausreichend vorhanden.”
Ebenfalls durch Zeitmangel kann es zu einer nicht durchgehenden Betreuung kommen oder zu zu wenig Nachfrage bzw. Kontrolle des Therapieerfolgs. Man weiß außerdem, dass ein niedriger sozioökonomischer Status und schlechte Bildung zu verminderter Therapietreue führen können. Diese Faktoren verstärken das in Österreich ohnehin schlecht ausgebildete Verständnis für Gesundheit, die Health-Literacy, zusätzlich.
Die Zahlen zeigen außerdem, dass Frauen ihre Behandlung sogar noch häufiger als Männer unterbrechen. 140.960 Patientinnen, die ihre Therapie ab- oder unterbrochen haben, wurden erhoben – und das, obwohl im Allgemeinen Frauen gesundheitsbewusster sind. Das könnte an den Nebenwirkungen von Medikamenten liegen, betont Kautzky-Willer: “Das dürfte vor allem bei Frauen ein ausschlaggebender Faktor sein. Man weiß, dass Frauen um bis zu 50 Prozent häufiger Nebenwirkungen entwickeln. Gleichzeitig werden sie mit diesen Symptomen oft nicht ernst genommen.” Dabei gebe es in jeder Medikamentenkategorie unterschiedliche Präparate, man könne auf jeden Fall ein anderes finden, das besser verträglich sei.
Auch Ärzte in die Pflicht genommen
Und Kautzky-Willer nimmt auch die eigene Zunft in die Pflicht: “Nicht alle Ärztinnen und Ärzte nehmen chronische Erkrankungen so ernst, wie sie eigentlich sollten. Patientinnen und Patienten, die wegen Komplikationen zu uns ins Spital kommen, berichten immer wieder, der Hausarzt habe gemeint, jetzt passe eh alles wieder, man müsse die Medikamente nicht mehr nehmen.” Ebenso Berichte aus dem persönlichen Umfeld, dass etwa ein Medikament nicht gut vertragen wurde, veranlassen einige dazu, das eigene Medikament ohne Rücksprache abzusetzen.
Das Problem ist übrigens nicht nur bei der Diabetes-Behandlung präsent, es betrifft beinahe alle chronischen Erkrankungen. Die Internistin berichtet: “Über alle chronischen Krankheiten verteilt nehmen nur etwa 50 Prozent der Betroffenen ihre Medikamente regelmäßig und wie verschrieben ein. Je nach Erkrankung liegt dieser Wert bei zehn Prozent oder sogar bei 80 Prozent.”
Diese fehlende Therapietreue hat Folgen, oft sogar schwerwiegende: “Die Betroffenen, die ihre Therapie abbrechen oder unterbrechen, haben eine höhere Sterblichkeit. Zwar konnte kein kausaler Zusammenhang zwischen Aussetzen der Therapie und Mortalität festgestellt werden, aber aus klinischer Sicht ist ein Zusammenhang vorstellbar.” Gerade bei Diabetes sind Therapietreue, die regelmäßige Kontrolle der wichtigsten Risikofaktoren und die Motivation zu einem gesunden Lebensstil wesentlich. Die Erkrankung bedingt nämlich viele Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenversagen, Erblindung, Neuropathien oder offene Wunden und in der Folge sogar Amputationen.
Mehr Gemüse, weniger Stress
Dagegen helfe nur besseres Monitoring, mehr Nachfragen, und die Expertin sieht mögliche Chancen in der Telemedizin. Viel besser wäre allerdings, Diabetes gar nicht erst entstehen zu lassen. Es gibt natürlich ein genetisch bedingtes Risiko, doch der Lebensstil hat mindestens so viel Einfluss, wenn nicht deutlich mehr. Kautzky-Willer empfiehlt für den gesunden Lebensstil die sogenannte mediterrane Kost, also viel Gemüse und Ballaststoffe, wenig Fleisch, und wenn, dann Geflügel, stattdessen Fisch, hochwertige pflanzliche Öle, dafür wenig Zucker und Alkohol. “Diese Empfehlungen sind ja nicht neu, und sie verändern sich auch nicht. Man sollte aber nicht nur auf die Qualität der Lebensmittel achten, sondern auch die verzehrte Menge begrenzen.”
Zusätzlich sollte man ausreichend Bewegung machen – die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt 150 Minuten moderate oder 75 Minuten intensive Bewegung pro Woche – nicht rauchen, auf gute Schlafqualität achten und chronischen Stress reduzieren. Und auch der Psyche sollte man sich widmen: “Wenn man sich psychisch länger nicht gut fühlt, ist das ein großer Risikofaktor für chronische Erkrankungen.” Kautzky-Willer betont außerdem, wie wichtig Vorsorgeuntersuchungen sind: “Da werden im Idealfall viele relevante Blutwerte untersucht, dadurch kann man eine mögliche Gefährdung schnell erkennen. Leider werden aber HbA1c- und LDL-Cholesterin noch immer nicht jedes Mal mitbestimmt.” Und sie weist auf einen weiteren Risikofaktor speziell von Frauen hin: Schwangerschaftsdiabetes. Frauen, die davon betroffen waren, sollten umso regelmäßiger zur Kontrolle gehen. (Pia Kruckenhauser, 16.6.2023)