Identitätsstiftung: Ritual und göttliche Moral halten Gesellschaften zusammen

 

Eine internationale Studie kommt zum Schluss, dass standardisierte Rituale den religiösen Überzeugungen vorausgegangen sind

JOCHEN STADLER | aus HEUREKA /19 vom 22.05.2019

 

Ohne die Moral der Götter würden große Reiche schnell zerfallen, berichtet ein internationales Forscherteam mit österreichischer Beteiligung. Sämtliche Multikulti-Gesellschaften auf der ganzen Welt haben sich sittengestrenge Götter oder Instanzen wie das Karma der Buddhisten konstruiert, um zu verhindern, dass sie wieder in ihre kleinen ethischen Gruppen zerfallen, erklären die Wissenschaftler in einer Studie im Wissenschaftsmagazin Nature.

 

Peter Turchin vom “Complexity Science Hub” in Wien analysierte in einem Team um Patrick Savage von der Oxford University in England Daten zu 414 Gesellschaften aus dreißig Regionen weltweit, die in den vergangenen 10.000 Jahren entstanden sind. Wenn Reiche mehr als eine Million Menschen zählten, tauchten stets mächtige, moralisierende Götter oder übernatürliche, prosoziale Lenkmechanismen wie das Karma auf, berichtet er. Der Glaube an solche metaphysischen Phänomene ist demnach nicht Voraussetzung, dass die Menschen kooperieren und sich in komplexen Gesellschaften vereinen. Aber er dient quasi als Kitt, der sie ab einer gewissen Größe zusammenhält und gewährleistet, dass diverse Gruppierungen in einem multiethnischen Reich gemeinsame Sache machen.

Viel früher als der Glaube an strafende Götter entstanden jeweils standardisierte Rituale. “Das legt nahe, dass eine gemeinsame Identität für die Kooperation wichtiger ist als eine religiöse Überzeugung”, so Turchin.