Keine europaweite Strategie, Fehler beim Timing der Maßnahmen, kein Zugang auf relevante medizinische Daten und zu viel Einfluss der Politik auf Entscheidungen im Gesundheitswesen – sechs Experten blicken zurück. Und voraus.
Mit dem ersten bundesweiten Lockdown am 16. März 2020 kam dieCoronakrise auch in Österreich an. Drei weitere und ein längerer nur für Ungeimpfte sollten folgen.
Drei Jahre später – nach etwas mehr als 200 Millionen Tests, sechs Millionen laborbestätigter Fälle und 22.000 Todesopfern – gilt die Pandemie als überwunden. Mit Ende April fällt die Maskenpflicht auch in Gesundheitseinrichtungen (inklusive Ordinationen), bis Ende Juni sollen die restlichen Beschränkungen aufgehoben werden, Covid-19 ist dann keine meldepflichtige Erkrankung mehr.
Was bleibt als Erkenntnis aus den vergangenen drei Jahren übrig? Sechs der renommiertesten Gesundheitsexperten des Landes – vom Lungenfacharzt über eine Impfexpertin bis hin zur Epidemiologin und Virologin – ziehen für die „Presse am Sonntag“ Bilanz.
Ursula Wiedermann-Schmidt: „Pandemie führte zu Innovationsschub und Wissensturbo”
„Bei all dem Leid und den Belastungen führte die Pandemie zu einem enormen Innovationsschub und Wissensturbo durch vermehrte nationale und internationale Vernetzung der Wissenschaft“, sagt Ursula Wiedermann-Schmidt , Leiterin des Instituts für SpezifischeProphylaxe und Tropenmedizin der Med-Uni Wien. „Nach wie vor einzigartig ist die rasche Entwicklung der hochwirksamen Impfstoffe, ohne die wir viel höhere Erkrankungs- und Sterbefälle verzeichnet hätten und vermutlich noch immer mitten in der Pandemie steckenwürden.“
Auch immunologisch seien zahlreiche wichtige Erkenntnisse gewonnen worden, „weil wir – aufgrund des für alle neuen Erregers – die immunologischen Abwehrmechanismen in allen Alters- und Risikogruppen untersuchen konnten“. Dazu gehörten etwa die notwendigen Impfdosen für eine stabile Immunität, Quantität und Qualität der Immunantwort auf einen ständig mutierenden Erreger sowie Schutzdauer nach Impfung und/oder Infektion in verschiedenen Altersgruppen.
„Diese Erkenntnisse sind auch essenziell für Impfstrategien mit anderen Impfstoffen, besonders für mehr personalisierte Impfkonzepte in der stets wachsenden Gruppe von Personen mit geschwächtem Immunsystem“, sagt die Ärztin. „Die jetzigen Studien – auch unsere eigenen – beschäftigen sich mit der Entwicklung von nasalen Impfstoffen, die nicht nur die Erkrankung, sondern auch die Infektion – und damit die Weitergabe des Virus – verhindern sollen.“
„Was mich fassunglos macht“
Für die Evaluierung eines Impfkonzepts auf Populationsebene sei es zudem erforderlich, über Daten wie Impfregister, Erkrankungs- und Hospitalisierungsraten zu verfügen. Nur dann, wenn diese vernetzt werden, könne man ersehen, wie gut ein Impfprogramm greift und woÄnderungen nötig sind. In vielen anderen Ländern werde das bereits erfolgreich umgesetzt, „nur in Österreich wehrt man sich aus Datenschutzgründen“, so Wiedermann-Schmidt. „Hier gibt es einen sehr großen Nachholbedarf, denn jede Einführung eines Behandlungs- oder Impfkonzepts muss hinsichtlich Wirksamkeit und Kosteneffizienz auf Populationsebene wissenschaftlich evaluiert werden können. Unsere zahlreichen diesbezüglichen Forderungen an die Politik blieben bis dato ungehört.“
Was sie immer noch „erschüttere oder eigentlich fassungslos mache“, sei die Tatsache, dass in einer der schwersten Gesundheitskrisen die Impfprävention als eine der wichtigsten Maßnahmen zur Infektionskontrolle für politische Zwecke in verantwortungsloser Weise missbraucht worden sei, „und damit zu Polarisierung, Spaltung und Aggression in der Bevölkerung maßgeblich beigetragen hat. Dieser Schaden wird uns lang begleiten und das Konzept der gesunden Gesellschaft durch Präventionsmedizin und Impfprävention Jahrezurückwerfen.“
Steckbrief
Ursula Wiedermann-Schmidt.
Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Med-Uni Wien sowie wissenschaftliches Mitglied des Nationalen Impfgremiums (NIG).
Gerald Gartlehner: „Politik hatte zu großen Einfluss“
Gerald Gartlehners wichtigste Erkenntnis: Das Gesundheitssystem Österreichs ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.
„Die Pandemie war für alle eine außergewöhnliche Situation, die in dieser Form noch niemand von uns erlebt hatte“, sagt Gerald Gartlehner , Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems.
„Manche Pandemiemaßnahmen waren vorausschauend und sinnvoll, andere haben sich im Rückblick eindeutig als falsch erwiesen. Das alles muss jetzt aufgearbeitet werden, um für die Zukunft zu lernen.“ Insgesamt zeigte die Pandemie Gartlehner zufolge deutlich, „dass die Politik einen zu großen Einfluss auf Entscheidungen im Gesundheitswesen hat“. Eine unabhängige und wissenschaftsbasierte Entscheidungsfindung sowie eine transparente Kommunikation wären jedoch in einer solchen Krise essenziell gewesen.
Die Pandemie habe der Bevölkerung jedenfalls „drastisch vor Augen geführt, dass das österreichische Gesundheitssystem noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist“. Selbst einfache Daten könnten nicht verlinkt werden, Entscheidungen seien aufgrund des Föderalismus häufig widersprüchlich, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung sei schlecht und das medizinische Personal nicht mehr bereit, die vorhandenen Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.
„Das Märchen, dass Österreich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt hat, erwies sich als das, was es immer war: ein Märchen“, so Gartlehner. „Jetzt ist es wichtig, dass wir aus dieser Krise lernen und Maßnahmen ergreifen, um das Gesundheitssystem in Österreich zu modernisieren und zu verbessern. Nur so können wir sicherstellen, dass wir in Zukunft besser auf solche Krisen vorbereitet sind und angemessen darauf reagieren können.“
Steckbrief
Gerald Gartlehner.
Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems.
Monika Redlberger-Fritz: „Selbstkritisch zurückblicken“
Die nächste Pandemie kommt bestimmt – ob in zwei, 20 oder 100 Jahren. Daher gibt es noch viel zu tun, sagt Monika Redlberger-Fritz.
„Nach drei Jahren Pandemie soll man durchaus selbstkritisch einen Blick zurückwerfen“, sagt Monika Redlberger-Fritz vom Zentrum für Virologie der Med-Uni Wien und Mitglied des Nationalen Impfgremiums.
Im Nachhinein sei es immer leicht zu sagen: „Ich hab’s ja gesagt.“ Dieses „Knew it all along“-Phänomen sei aber eine Verzerrung der Vergangenheit. „Wenn Maßnahmen wirksam waren, sind sie in der Nachschau immer das Opfer ihres eigenen Erfolgs und werden rückblickend irrational bagatellisiert“, sagt sie. „Man kann Entscheidungen aber immer nur auf Basis der zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Daten treffen.“
Dabei sei die Wissenschaft ein entscheidender Faktor gewesen. „Internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit wurde vorangetrieben, wirksame Impfstoffe und Therapien wurden entwickelt, Vorhersagemodelle berechnet, Virusvarianten verfolgt, Impfpriorisierungen getroffen, Impferfolge beurteilt“, so Redlberger-Fritz. „Vieles wurde richtig gemacht, vor allem Masken, soziale Distanzierung, Impfungen haben weltweit Millionen Leben gerettet. Wir können und sollen der Wissenschaft folgen, wir können nicht erwarten, dass sie politische Entscheidungen abnimmt.“
Wie lang ein Lockdown notwendig ist und wann bzw. wie lang Schulen geschlossen werden sollen – diese Fragen könne die Wissenschaft nicht beantworten, sondern nur als Entscheidungshilfe dienen. „Die nächste Pandemie kommt bestimmt, ob in zwei, 20 oder 100 Jahren. Es gibt viel zu tun: weltweite Ungleichverteilung aufheben, Personalmangel beheben, Überwachungssysteme ausbauen, Missinformationen klarstellen und – in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung – uns gegenseitig respektieren.“
Steckbrief
Monika Redlberger-Fritz.
Virologin am Zentrum für Virologie der Med-Uni Wien und Mitglied des Nationalen Impfgremiums (NIG).
Eva Schernhammer: „Österreich war erschreckend unvorbereitet“
Zu den wichtigsten Erkenntnissen von Eva Schernhammer gehört, dass es Europa selbst in einer Pandemie nicht gelungen ist, eine einheitliche Strategie vorzugeben.
Microsoft -Gründer Bill Gates habe bereits 2015 „das Pandemie-Schreckgespenst an die Wand gemalt, doch die globale Zusammenarbeit als wichtigster Baustein in der Pandemiebekämpfungwar nicht existent, Österreich erschreckend unvorbereitet auf den März 2020“, sagt Eva Schernhammer . Sie ist Leiterin des Zentrums für Public Health und der Abteilung für Epidemiologie an der Med-Uni Wien, Mitglied der Krisenkoordination Gecko sowie derImpfpflichtkommission. „In der nunmehrigen Atempause gibt es viel zu tun. Es ist wichtig, Dinge aufzuarbeiten: Was haben wir gelernt, was können wir gegebenenfalls besser machen?“
So müsse etwa Österreichs Pandemieplan überarbeitet werden, die Systemgrenzen – beispielsweise bei den Intensivbetten – gehörten evaluiert, das Gesundheitssystem gestärkt, die Gesellschaft resilienter gemacht, auch hinsichtlich psychischer Gesundheit. Daher müssten für die Zukunft konkrete „Dos and Don’ts festgelegt werden“. Das bedeute unter anderem, dass eine allgemeine Impfpflicht nur dann in Erwägung gezogen werden dürfe, „wenn es der Impfstoff hergibt“. Eine Null-Covid-Strategie wiederum sei nur dann sinnvoll, „wenn nicht nur Österreich mit acht umliegenden Ländern und offenen Grenzen daran teilnimmt. Dass es Europa selbst in der Pandemie nicht gelang, eine ganzheitliche Strategie vorzugeben, ist eine wichtigeErkenntnis.“
Die Politik müsse lernen, besonders in Krisensituationen „Schulter an Schulter zu stehen, anstelle von Partikularismus und Föderalismus braucht es dringend nationale und globale Zusammenarbeit“, so Schernhammer. „Für uns als Bevölkerung wünsche ich mir mehrMiteinander statt Gegeneinander und dass es uns zunehmend gelingt, den One-Health-Ansatz auf unserem Globus umzusetzen. Mein Resümee: Es ist wichtig, Dinge aufzuarbeiten, aber mit dem Blick nach vorn.“
Steckbrief
Eva Schernhammer.
Leiterin des Zentrums für Public Health und der Abteilung für Epidemiologie an der Med-Uni Wien, Mitglied der Krisenkoordination Gecko sowie der Impfpflichtkommission.
Bernd Lamprecht: „Maßnahmen waren prinzipiell richtig“
Timing, Intensität und Zielgruppe der Verordnungen wären Bernd Lamprecht zufolge im Rückblick präziser möglich gewesen.
„Der Beginn der Pandemie war bedrohlich, da ein neuartiges Virus einer Bevölkerung ohne diesbezügliche Immunität gegenüberstand. Das bedeutete ein hohes Risiko für schwere Erkrankung und folglich ein Systemrisiko für Gesundheitseinrichtungen“, sagt Bernd Lamprecht,Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin mit Schwerpunkt Pneumologie an der Johannes-Kepler-Universität Linz
Medikamente und die Schutzimpfung seien zu diesem Zeitpunkt außer Reichweite gewesen. „Daher wurden Maßnahmen ergriffen, um die Infektionszahlen zumindest zu dämpfen und Gesundheitseinrichtungen vor Überlastung zu schützen. Diese Maßnahmen der Mitigation –Lockdown, Distance Learning, Home-Office, Abstand, Maske – waren meines Erachtens prinzipiell richtig, haben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen jedoch unterschiedlich hart gefordert.“
Zeitpunkt, also Timing, Intensität und Zielgruppe einzelner Maßnahmen wären mit heutigem Wissen präziser möglich. Bezüglich Stringenz der Maßnahmen sei zudem die Amplitude, also das Auf und Ab in der Intensität, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (zu) hoch gewesen. „Im Verlauf der Pandemie gewannen wir zunehmende Kenntnisse über Virus und Behandlungsmöglichkeiten, Schutzimpfungen wurden verfügbar und haben geholfen, schrittweise wieder Normalität durch Immunität herzustellen“, so Lamprecht. „Die relevantenParameter der Zukunft werden voraussichtlich Impfquote und Verfügbarkeit von wirksamen Medikamenten sein, denn diese Faktoren beeinflussen die Schwere der Erkrankung und konsekutiv die Auswirkungen auf Kapazitäten im Gesundheitssystem.“
Mit einer Pandemie sei es vermutlich so, wie es der dänische Philosoph Kierkegaard für das Leben formuliert hat: „Verstehen kann man das Leben oft nur rückwärts, doch leben muss man es vorwärts.“
Steckbrief
Bernd Lamprecht.
Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin mit Schwerpunkt Pneumologie an der Johannes-Kepler-Universität Linz.
Peter Klimek: „Die Pandemie war ein Vergrößerungsglas für bestehende Problemfelder“
Österreich müsse von Ländern wie etwa Dänemark und Finnland lernen, sagt Peter Klimek.
„Die Geschichte der Pandemie ist in ihren Grundzügen schnell erzählt“, sagt Komplexitätsforscher Peter Klimek von der Med-Uni Wien.
„Nachdem ein frühzeitiges Einfangen des Virus nicht gelang, wurden wir Sars-CoV-2 nicht mehr los. Für die ursprüngliche Variante ist nun bekannt, dass ohne Impfung etwa ein Prozent der Infektionen tödlich geendet hätte. Binnen eines Jahres konnten Impfstoffe entwickelt werden, die nach wie vor sehr zuverlässig vor schweren Erkrankungen schützen.“
Durch ein Bündel an Maßnahmen sei es zuvor gelungen, den Großteil der Infektionen so lang zu verschieben, bis sehr viele geimpft werden konnten. „Dadurch wurde dem Virus der Zahn gezogen, und wir hatten bislang nur ein Fünftel der Covid-assoziierten Todesfälle zu beklagen, die wir – naiv geschätzt – ohne Impfung hätten erwarten müssen.“ Gleichzeitig habe die Pandemie „als Vergrößerungsglas für bestehende Problemfelder“ im Gesundheitssystem gedient. Zum Beispiel sei die Landschaft der Gesundheitsdaten in Österreich nicht mehrzeitgemäß.
Informationen wie Spitalsaufnahmen, Impfstatus, soziale und wirtschaftliche Indikatoren, verschriebene Medikamente usw. würden von unterschiedlichen Stellen gehalten und nicht miteinander verknüpft. „In anderen Ländern hingegen war früh klar, welche Berufsgruppen sich besonders häufig ansteckten und welche Bevölkerungsgruppen ein besonderes Risiko tragen“, so Klimek. „Hier müssen wir dem Vorbild von Ländern wie Finnland und Dänemark folgen, die ihre Gesundheitsdaten besser im Griff haben und dadurch auch in der Pandemie schneller und zielgerichteter eingreifen konnten, als das manchmal bei uns der Fall war.“
Steckbrief
Peter Klimek.
Physiker an der Medizinischen Universität Wien und Komplexitätsforscher am Complexity Science Hub Vienna.