BUCHBESPRECHUNG: DIE ZERBRECHLICHKEIT DER WELT BEWAHRT UNS BIG DATA VOR DEM KLIMAKOLLAPS?

 

Prof. DDr. Stefan Thurner, Komplexitätsforscher von internationalem Rang, hat sich mit seinem Buch viel vorgenommen: “Ich werde versuchen zu zeigen, dass die Antwort auf die Klimakrise nicht in einem Öko-Kommunismus oder einer Öko-Diktatur liegt, wie sie manche predigen. Ich werde vielmehr zeigen, dass die Antwort im technischen Fortschritt, in der Wissenschaft der komplexen Systeme, in Big Data und der Rechenleistung von Computern liegt. Es geht dabei um eine Kombination von technischen Neuerungen mit mentalen Veränderungen in sozio-ökonomischen Netzwerken”.

 

Um die Antwort zu geben, taucht Thurner tief in die Welt der Komplexitätsforschung ein. Drei Aussagen sind dabei von zentraler Bedeutung:

 

1 . Die Welt besteht aus miteinander verwobenen, interagierenden, aufeinander einwirkenden und sich ständig verändernden komplexen Systemen. Gesellschaft, Wirtschaft, Klima, Finanzsystem – all das sind komplexe, dynamische Systeme. Hinter diesen Systemen stehen oft mehrere “dynamische Netzwerke”, die miteinander Zusammenhängen. Eine digitale Kopie des Planeten als Hoffnungsträger für die Zukunft.

 

2. Das Wesen komplexer Systeme ist, dass sie über lange Strecken erstaunlich “stabil, robust und anpassungsfähig” sind.

 

3. Alle diese Systeme haben Tipping Points (Kipp-Punkte). Überschreiten sie diese Punkte, kommt es zu irreversiblen Änderungen und die Systeme kollabieren.

 

Buchempfehlung Edition a, Wien 2020, 272 Seiten

 

Zum Autor: Univ.-Prof. Mag. DDr. Stefan Thurner, geboren 1969 in Innsbruck, ist Physiker und Ökonom. Seit 2009 ist er Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2015 leitet er den Complexity Science Hub Vienna (CSH). Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten zeichnete ihn als österreichischen Wissenschaftler des Jahres 2017 aus.

 

In einem eigenen Kapitel setzt sich Thurner mit der Klimakrise und der Gefahr kollabierender Ökosysteme auseinander und zeigt hier beispielhaft die Möglichkeiten der Komplexitätsforschung auf. Im Gegensatz zu früheren Kulturen, die kollabiert sind, haben wir erstmals die Möglichkeit, Tipping Points im Vorhinein zu erkennen. Wollen wir einen Kollaps verhindern, dürfen wir diese nicht überschreiten.

 

Und hier kommt der große “Hoffnungsträger” von Thurner ins Spiel – die “digitale Kopie” unseres Planeten, in der wir alles speichern, was geschieht. Überall gibt es Sensoren, die Daten erheben und mitschreiben, wir vermessen faktisch alles, was auf dem Planten passiert. Das gibt uns die Möglichkeit, Kipp-Punkte vorauszuberechnen und wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten.

 

Dass das keine Wunschvorstellung eines Komplexitätsforschers ist, zeigt die Initiative “Destination Earth”1, die Mitte dieses Jahres starten wird und bis zu zehn Jahre laufen der Privatsphäre verbunden ist.  Ziel ist die Erstellung eines hochpräzisen digitalen Modells der Erde, quasi eines digitalen Zwillings, in das neben den herkömmlich für Wetter- und Klimasimulationen genutzten Beobachtungsdaten auch für das Klimasystem relevante Daten menschlicher Aktivitäten integriert werden. Damit soll ein Informationssystem entstehen, das Szenarien entwickelt und testet, die eine nachhaltigere Entwicklung aufzeigen und damit die Politik besser informieren.

 

Thurner ist sich dessen bewusst, dass mit der digitalen Kopie des Planeten die Gefahr einer massiven Manipulation und Verletzung der Privatsphäre verbunden ist. Im Kapitel “Die Zerbrechlichkeit der Zivilgesellschaft” geht er ausführlich darauf ein. Kritisch analysiert er die Macht der Internetkonzerne und die Ausbildung einer Art “digitaler Diktatur” in China.

 

Dennoch: Dass wir mit “mit Fortschritt, Wissenschaft, der positiven Nutzung von Daten und insbesondere mit der digitalen Kopie des Planeten die großen Probleme erkennen und lösen werden, ohne dass unsere Nachkommen dafür bitter bezahlen müssen” – das ist die positive Perspektive seines interessanten Buches.

 

Norbert Tempi, AK Wien norbert.templ@akwien.at