Silicon Saxony, Liz Truss, Kuchen für alle

 

 

Elite-Überproduktion – eine Hypothese zur sozialen Instabilität

 

piqer:
Thomas Wahl

 

 

Der Westen erlebt eine Welle der Unzufriedenheit, gerade seiner gebildeten Schichten. Die vielfältigen, wütenden Proteste und Auseinandersetzungen in den sozialen Medien etwa gegen die Ungerechtigkeiten und Zumutungen des „Kapitalismus“ oder die „Cancel Culture“ gehen nicht so sehr von der Arbeiterklasse oder gar den Deklassierten aus. Nein, es sind eher die studierten Eliten – oft mit einem Hintergrund in den „Humanities„. Das stützt die Hypothese von Peter Turchin zur Überproduktion studierter Eliten, über die ich vor einiger Zeit schon einmal in einem piq geschrieben habe.

 

 

Noah Smith greift die Hypothese auf und stellt die Frage:

 

 

Hat Amerika in den 2000er und 2010er Jahren zu viele frustrierte Hochschulabsolventen produziert?

 

 

Er unterlegt seine Beantwortung der Frage mit interessantem statistischen Material. Die Kurven zeigen sehr schön, wie bis etwa 2010 die Zahlen der Studienabschlüsse in den Humanities (Humanwissenschaften, Geisteswissenschaften sowie die Sozialwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften) rasant wachsen, dann stagnieren und schnell sinken. Während Abschlüsse in Computer Science und Science zu dominieren beginnen. Warum war das so, fragt Smith. Nach seiner Hypothese gab es bis zur großen Rezession 2008 mit einem Abschluss in den Humanities eine Fülle von Karrierewegen. Was den jungen Menschen

 

 

wahrscheinlich das Gefühl (gab), dass es sicher war, Geisteswissenschaften zu studieren – dass es trotz des Stereotyps, dass man mit einem englischen Abschluss nichts anfangen konnte, immer noch jede Menge Arbeit für sie gab, wenn sie es wollten. Das Studium der Geisteswissenschaften hat Spaß gemacht, man fühlte sich wie ein Intellektueller, und die sozialen Möglichkeiten waren wahrscheinlich viel besser, als wenn man den ganzen Tag in einem Labor oder vor einem Computerbildschirm feststeckte.

 

 

Und er zeigt wiederum mit Statistiken, dass danach eine ganze Reihe dieser Karrierewege prekärer wurden. Sei es in der Juristerei, in den traditionellen Medien oder als Beamter.

 

 

So litten all diese traditionellen Karrierewege für geisteswissenschaftliche Absolventen in den späten 2000er und 2010er Jahren. Aber gleichzeitig gab es einen riesigen Boom in der Zahl der Menschen, die Geisteswissenschaften studierten.

 

 

Und hier kommt nun die Theorie der Revolution durch nicht eingelöste Erwartungen zum Tragen. Sie besagt,

 

 

dass eine Revolution wahrscheinlich ist, wenn nach einer langen Zeit steigender Erwartungen, begleitet von einer parallelen Erhöhung ihrer Zufriedenheit, ein Abschwung eintritt. Wenn die Wahrnehmung der Bedarfszufriedenheit abnimmt, die Erwartungen weiter steigen, entsteht eine wachsende Kluft zwischen Erwartungen und Realität. Diese Kluft wird schließlich unerträglich und schafft die Voraussetzungen für eine Rebellion gegen ein soziales System, das seine Versprechen nicht erfüllt.

 

 

Und dieser Verlauf passt sehr gut auf die USA in den 2010er Jahren. Das Produktivitätswachstum verlangsamte sich um 2005 stark. Die Immobilienpreise (ein Hauptpfeiler der Mittelschichtsvermögen) stiegen bis 2006 an und begannen 2007 zu sinken. Und die Wirtschaft brach in der Großen Rezession ein. Und mitten drin die 25-Jährigen, die gerade ihre Abschlüsse in den Humanwissenschaften machten mit all ihren Karriereerwartungen und Studienschulden.

 

 

… und niemand will Anwälte, Zeitschriften sterben, Nachrichtenredaktionen sterben, Universitäten stellen nicht ein, …

 

 

Damit wurde Sozialismus in den 2010er Jahren bei jungen Amerikanern schnell beliebter, die Bernie-Sanders-Bewegung explodierte. Sicher bestand sie aus Menschen aller Klassen. Aber insgesamt war es keine proletarische Bewegung. Es war und ist noch im Grunde, wie N. Smith wahrscheinlich richtig vermutet, eine Revolte von studierten Eliten

 

 

oder zumindest der Menschen, die erwarteten, dass ihre Ausbildung sie zu einem Teil dieser Klasse macht. Es ist bezeichnend, dass zwei der leidenschaftlichsten Kreuzzüge der neuen sozialistischen Bewegung der Schuldenerlass von Studenten und das freie College waren.

 

 

Oder wie Smith selbst sagt:

 

 

… als Sozialisten mit Hochschulabschlüssen mit mir über die „Arbeiterklasse“ sprachen, wurde mir klar, dass die Klasse, die sie beschrieben, sie selbst war.

 

 

Traditionell glauben ja viele, dass Revolutionen grundsätzlich von unterdrückten Arbeitern oder Landarbeitern ausgehen. Aber eigentlich sind frustrierte und unterbeschäftigte Eliten viel besser geeignet, um Gesellschaften zu destabilisieren und ggf. umzugestalten (und so war es auch in den meisten vergangenen Revolutionen).

 

 

Sie haben das Talent, die Verbindungen und die Zeit, radikale Bewegungen zu organisieren und radikale Ideen zu verbreiten. ….

 

 

Was auch bedeutet,

 

 

eine Gesellschaft, die eine große Kohorte unruhiger, frustrierter, talentierter und hochgebildeter junger Menschen hervorbringt, bittet um Ärger.

 

 

Wie kommen wir da raus? N. Smith sieht zwei Wege und ich würde ihm da zustimmen:

 

 

  • Die Realität zu verbessern, was nur schwer, graduell und langsam möglich ist oder

 

  • Erwartungen zu reduzieren bzw. realistischer zu gestalten.

 

 

Letzteres würde auch heißen, die Konzepte der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften pragmatischer und realitätsnäher zu machen.