Ist die Ausgangssperre tatsächlich verhältnismäßig?
Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hatte die Ausgangssperre am vergangenen Mittwoch im “ARD-Morgenmagazin” so verteidigt: “Das hat überall geholfen, in vielen Staaten der Welt ist das gemacht worden, und es hat die Inzidenzwerte nach unten gebracht. Deshalb ist es eine Maßnahme, die zu den vielen anderen dazugehört, und sie ist auch verhältnismäßig.” Was ist dran an den Argumenten von Scholz?
Ausgangssperren in vielen Ländern
In einer Sache hat Scholz recht: Viele Staaten der Welt haben Ausgangssperren verhängt. Aber hat das überall geholfen und die Inzidenzwerte nach unten gebracht, wie der Vizekanzler sagt? Peter Klimek, der am Complexity Science Hub in Wien zum Thema forscht, sagt dazu: “Im Großen und Ganzen ja. Also es gibt eine Reihe von Studien zu dieser Maßnahme. Eine interessante Frage ist ja immer, ob das, was in der ersten Welle geholfen hat, auch heute noch hilft, also in der zweiten Welle.”
Einfluss der Ausgangssperre auf den R-Wert
Genau dazu hat die Universität Oxford vor Kurzem die Vorab-Version einer Studie veröffentlicht. Dabei wurden die Corona-Maßnahmen in verschiedenen Regionen Europas auf ihre Wirksamkeit untersucht. Ergebnis: Die nächtliche Ausgangssperre reduziert den R-Wert zwischen zehn und 20 Prozent. Der R-Wert gibt an, an wie viele Menschen eine infizierte Person das Virus im Schnitt weitergibt.
Die aktuelle Forschung untermauert also die Aussage von Olaf Scholz – und auch andere Studien aus der ersten Welle bescheinigen der Ausgangssperre, zu wirken. Wie sehr, darüber gehen die Angaben auseinander. Das sei allerdings auch sehr schwer festzumachen, sagt Wissenschaftler Peter Klimek: “Wie wirksam eine Maßnahme ist, hängt sehr stark davon ab, auf welche Art und Weise, wo und vor allem mit welcher zeitlichen Abfolge sie implementiert wird. Das ist sehr stark kontextabhängig, wie gut eine Maßnahme wirkt. So etwas wie die Wirksamkeit einer Maßnahme alleine in Isolation von allem anderen – so was gibt’s einfach nicht.”
Entscheidungen bei Nicht-Wissen durchaus rechtens
Wie wirksam eine Maßnahme ist, spielt auch eine Rolle bei ihrer Bewertung. Das führt zum zweiten Teil von Scholz‘ Aussage: Die Ausgangssperre sei verhältnismäßig. Kann die Bundesregierung die Freiheitsrechte der Menschen einschränken, ohne zu wissen, wie viel genau die Ausgangssperre bringt? Ja, sagt Anna Leisner-Egensperger, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Jena: “Für diesen Bereich des Nicht-Wissens muss man im Prinzip auf der Grundlage der geringen Kenntnisse, die es dazu gibt, irgendeine Entscheidung treffen und da gibt es den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers. Das heißt, das ist nicht das Argument gegen die Ausgangssperre.” Allerdings gebe es auch einige Argumente, um an deren Verhältnismäßigkeit zu zweifeln. Zum Beispiel, dass es wichtiger sein könnte, andere Maßnahmen wie die Homeoffice-Pflicht oder die Testpflicht in Unternehmen konsequent durchzusetzen.
Und auch ihr Kollege Jochen Rozek, Staatsrechtler an der Universität Leipzig, hat Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des neuen Paragraphen zum Infektionsschutzgesetz: “Also es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass der Paragraph 28b unter diesem Aspekt, vielleicht auch noch unter anderen Aspekten, vor das Bundesverfassungsgericht kommt.”
Ob Olaf Scholz mit der Behauptung, die Ausgangssperre sei verhältnismäßig, recht hatte, das werden dann voraussichtlich die dortigen Richterinnen und Richter beantworten.