Wie die globale Gesellschaft auf das Coronavirus reagiert, sagt viel über uns selbst aus: Wir sind so vernetzt, widerstandsfähig und ängstlich wie nie zuvor.

 

 

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Quelle: Complexity Science Hub Vienna/Johannes Sorger, Tobias Reisch

Forscher des Complexity Science Hub Vienna haben anhand Dutzender Wirtschaftssektoren errechnet, welche ökonomischen Folgen die Coronavirus-Epidemie auf 43 Staaten hat – und eine eindrucksvolle grafische Darstellung von Beziehungen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen in Zeiten der
Globalisierung geschaffen.

 

In China starben bis vergangene Woche 2115 Menschen am Coronavirus,
im Rest der Welt waren es insgesamt elf. Ein Toter in
Ägypten wird von der deutschen Tageszeitung „Frankfurter
Rundschau“ als „Vorbote einer Katastrophe“ vermeldet. Russland
hat die Grenzen für chinesische Staatsbürger geschlossen. Die Investmentbank
Goldmann Sachs warnt, der drohende Effekt der Pandemie
auf die Börsen werde noch unterschätzt. In den USA, wo bislang
keine derartige Erkrankung nachgewiesen wurde, sind vielerorts
die Schutzmasken ausverkauft. In der Ukraine versucht eine
aufgebrachte Menschenmenge, mit Gewalt zu verhindern, dass
27 aus Wuhan ausgeflogene Landsleute in eine Klinik eingeliefert
werden. Das klingt nach Panik.

Wir schreiben das Jahr 2020. Ein neuer Krankheitserreger breitet
sich aus. Er wird „Coronavirus“ genannt, wobei das nicht sein
wissenschaftlich korrekter Name ist, aber dazu später.
Ihren Anfang nahm die Seuche in den ersten Dezembertagen
des vergangenen Jahres, wahrscheinlich auf dem „Huanan
Meeresfrüchte Großmarkt“ in der chinesischen Elf-Millionen-Einwohnerstadt Wuhan.
Dort dürfte es nach derzeitigem Wissensstand von
einem bisher unbekannten Tier auf den Menschen
übergesprungen und solcherart mutiert sein, dass
es seither von Mensch zu Mensch weitergegeben
werden kann.

Bald stellte sich heraus, dass das Virus für Infizierte
potenziell tödlich ist und dass sich mittlerweile
unzählige Menschen damit angesteckt haben
– wie viele es sind, kann niemand sagen. Sicher ist,
dass sich der Erreger von Wuhan aus über die gesamte
Provinz Hubei ausgebreitet, deren Grenzen
überschritten und auch das Ausland erreicht hat.

 

In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Coronavirus
bereits eine Pandemie – nach der Definition
des klinischen Wörterbuchs Pschyrembel eine
Krankheit, „die sich über Länder und Kontinente
ausbreitet und in der Regel eine große Anzahl von
Menschen betrifft“. Man könnte auch sagen: eine Weltseuche.

Diese Einschätzung erscheint angesichts der konkreten
Zahlen einigermaßen übertrieben, und das
ist bereits einer der bemerkenswerten Aspekte der
Geschichte des Coronavirus. Wie die Gesellschaft
mit der Plage umgeht, wie sie den Erreger benennt,
wie sie sich davor zu schützen versucht und welche
Ängste sie dabei plagen, all das erzählt viel über uns
selbst.

 

Wie das Virus heißen soll – und wie auf gar keinen Fall

Ein Virus braucht einen Namen – nicht so sehr,
um Medienberichterstattung und Small Talk
zu erleichtern, sondern auch, um die infektiösen
organischen Strukturen wissenschaftlich einzuordnen,
wie Elemente in ein Periodensystem oder
Tiere in Gattungen. So werden Verwechslungen ausgeschlossen
und die Informationsweitergabe in der
wissenschaftlichen Community ermöglicht. Zuständig
ist dafür seit dem Jahr 1971 das Internationale
Komitee für die Taxonomie von Viren. Und dieses
hält sich an strenge Regeln: „Coronavirus von Wuhan“,
wie man das Phänomen anfangs nannte,
kommt nicht infrage. Der Name darf niemanden
stigmatisieren und deshalb keinen Hinweis auf eine
geografische Bezeichnung, eine Person, eine Volksgruppe
und nicht einmal ein Tier beinhalten. Außerdem
muss er „einfach auszusprechen“ sein, erläutert
Tedors Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor
der Weltgesundheitsorganistion (WHO).

Bezeichnungen wie „Spanische Grippe“ (1918–
1920) oder „Hongkong-Grippe“ (1968–1969) sollen der
Vergangenheit angehören. Das aktuelle Virus wurde
auf den Namen „Sars-CoV-2“ getauft; die Krankheit,
die es verursacht, heißt wiederum „Covid-19“.

 

Warum wir uns so schrecklich fürchten

 

Die Zahl von mehr als 2000 Todesopfern klingt
nach einer mittleren Katastrophe. Tatsächlich
entspricht dies in China, einem Staat mit
annähernd 1,4 Milliarden Einwohnern, einer fast
vernachlässigbaren Bedrohung. Allein im Acht-Millionen-
Einwohnerland Österreich sterben pro Jahr
zwischen 1000 und 2000 Personen an der klassischen
Grippe. Die elf Toten außerhalb Chinas wiederum
rechtfertigen kaum eine erhöhte Aufmerksamkeit,
und doch herrscht selbst in Europa und
den USA, die gesundheitstechnisch bestens versorgt
und zudem weitab vom Schuss sind, das große Zittern.
In einem Wiener Gymnasium wurde vergangene
Woche die für April geplante Berlin-Reise einer
Klasse abgesagt. Begründung: „die unklare Sicherheitslage“
im Zusammenhang mit dem Coronavirus.
In Australien, wo bisher 15 Infektionsfälle registriert
wurden, melden chinesische Restaurants
völlige Flaute. Ähnliche Berichte kommen aus Nordamerika.
Vereinzelte Krankheitsfälle in Frankreich,
Deutschland und 26 weiteren Staaten weltweit werden
als Beleg dafür herangezogen, dass eine globale
Pandemie drohen könnte.

Die WHO hingegen hält derzeit jegliche Reisebeschränkungen
wegen des Coronavirus (abgesehen
von den Quarantäne-Gebieten in China) für überflüssig.
Alle Staaten beteuern, auf allfällige Anzeichen
einer Epidemie vorbereitet zu sein. Epidemiologen
reden sich den Mund fusselig, um der Bevölkerung
die Angst zu nehmen. Arnaud Fontanet vom
Pariser Institut Pasteur etwa stand Usern der Website
der Tageszeitung „Le Monde“ Rede und Antwort
und riet davon ab, in Europa Gesichtsmasken zu
tragen oder auf Flugreisen zu verzichten. Es sei auch
nicht notwendig, Menschenansammlungen zu meiden,
weil derzeit ganz einfach keine Gefahr bestehe,
so Fontanet.

Doch die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts
sind beseelt davon, Restrisiken auszuschalten. Zählte
man vor 100 Jahren die Toten, so berechnet man
heute das denkmöglich schlimmste Szenario auf Basis
geringster Wahrscheinlichkeiten und gelangt so
zur realen Bedrohung einer tödlichen weltweiten
Pandemie.

 

Zum Vergleich: An der Spanischen Grippe starben
etwa 25 Millionen Menschen, an der Hongkong-
Grippe etwa eine Million. Die SARS-Pandemie
(2002–2003), die ebenfalls durch einen Erreger aus
der Familie der Coronaviren ausgelöst wurde, forderte
rund 1000 Todesopfer, außerhalb Chinas waren
es 121. Im Anschluss daran wurden zur (noch)
besseren Bekämpfung infektiöser Krankheiten eine
europäische Seuchenbehörde, das Europäische Zentrum
für die Prävention und die Kontrolle von
Krankheiten (ECDC) mit Sitz in Schweden, gegründet.
Mehr kann man kaum tun. Und dennoch bricht
nunmehr der internationale Passagierflugverkehr
ein; im New Yorker Stadtviertel Chinatown wagte
sich kaum jemand zu den Neujahrsfeiern, obwohl
in der ganzen Stadt kein einziger Coronavirus-
Krankheitsfall aufgetreten war; und am Portal des
Venture-Capital-Unternehmens Andreessen Horowitz
im kalifornischen Silicon Valley hängt seit Kurzem
ein Schild mit der Aufschrift: „Aus Anlass des
Coronavirus bitte kein Händeschütteln. Danke.“

 

Wie ungeheuer vernetzt die Welt ist und warum das nicht schlecht ist

In kaum einer Betrachtung des Phänomens weltweiter
Pandemien fehlt der Hinweis darauf, dass
die Globalisierung eine Ausbreitung von Infektionskrankheiten
exponentiell beschleunigt. Intensiver
Handel rund um den Globus, internationale
Konferenzen sowie Tourismus bringen Menschen aus
allen Ländern miteinander in Kontakt.
Als Symbol dafür eignet sich das Schicksal des
Kreuzfahrtschiffes „Diamond Princess“, das mit seinen
rund 3700 Passagieren und Crewmitgliedern im
Hafen der japanischen Stadt Yokohama unter Quarantäne
gestellt wurde. Bei 621 Personen konnte eine
Infektion nachgewiesen werden, zwei über 80-Jährige
starben.

Große, international zusammengewürfelte Gruppen
auf engem Raum, die danach in ihre Herkunftsländer
zurückkehren und dort Viren verbreiten können,
scheinen der unschlagbare Beweis dafür zu
sein, dass die Globalisierung ein extremer Risikofaktor
ist.

 

Doch in Wahrheit minimiert die internationale
Vernetzung die Risiken. Allein die Verbreitung von
Informationen über Ausbrüche von Infektionen
funktioniert dank globalisierter Technologien unvergleichlich
schnell. Von der Hongkong-Grippe erfuhren
Zeitgenossen erst Wochen nach ihrem Ausbruch
durch einen Bericht in der britischen Tageszeitung
„The Times“. Heute sind Neuigkeiten über
das Virus und seine Verbreitung weltweit ohne Verzögerung
zugänglich. Jeder einzelne Fall, sogar jeder
Verdachtsfall wird reportiert. Das erleichtert die
Einschätzung, ob und welche Präventionsmaßnahmen
sinnvoll sind.

Außerdem forschen bereits mehrere Teams nach
einem Impfstoff gegen Covid-19. Sobald es einer Forschergruppe
gelingen sollte, ein Serum herzustellen,
wird es sehr schnell überall einsetzbar sein.
Viren konnten sich auch vor 100 Jahren weltweit
verbreiten. Soldaten schleppten sie ein, doch bis klar
wurde, um welche Krankheit es sich handelte, war
die Epidemie längst außer Kontrolle.
Heute ankert die „Diamond Princess“ in Japan,
und die Behörden wissen bereits, auf welches Virus
hin sie die Menschen an Bord untersuchen müssen.

Warum uns das Virus verbindet und warum es uns trennt

Eine globale Bedrohung kann Staaten und Gesellschaften
zusammenbringen, auch wenn
sie politisch verfeindet sind. Längst wissen Politik
und Wirtschaft, dass eine Gesundheitskrise in
einer Volkswirtschaft auf der anderen Seite der Welt
Auswirkungen auf alle Staaten hat – erst recht, wenn
die Großmacht China involviert ist.

Peter Klimek, der als Professor an der Meduni
Wien und am Complexity Science Hub Vienna tätig
ist, hat die kurios anmutende Berechnung angestellt,
wonach jeder Euro, der in China in der Gastronomie
nicht konsumiert wird, in Österreich eine
Einbuße von 0,12 Cent bedeutet. Auf den nach momentanem
Stand prognostizierten Umsatzausfall
von 300 Millliarden Euro in China kämen durch indirekte
Effekte aufgrund von Handelsverflechtungen
international weitere 100 Milliarden Euro an
Verlusten hinzu, so Klimek. „Jetzt entscheidet sich,
wie groß der Schaden wirklich wird. Bislang haben
sich die Auswirkungen unseren Berechnungen zufolge
im verkraftbaren Bereich bewegt und sind weit
entfernt von Großereignissen wie der Finanzkrise
im Jahr 2008. Es ist zwar eine messbare Verlangsamung
der Weltwirtschaft zu erwarten, aber noch
besteht kein Grund zur Panik“, so der Komplexitätsforscher.

Der ganze Planet hat jedenfalls großes Interesse
daran, dass China die Seuche möglichst rasch in den
Griff bekommt. Die Regierung in Peking kann auf
jegliche Unterstützung zählen, nicht zuletzt aus Eigeninteresse
der Staatengemeinschaft.

 

Doch auch das Risiko einer Pandemie lässt Konflikte
zwischen Gesellschaftssystemen nicht verschwinden.
Als China ganze Städte unter Quarantäne
stellte, wurde dies international weitgehend begrüßt.
Aber die Regierung in Peking reagiert mit
Zensur, wann immer sie sich unverhältnismäßig kritisiert
fühlt, und vergangene Woche war dies der
Fall, nachdem das amerikanische „Wall Street Journal“
einen Kommentar mit dem Titel „China ist der
wahre kranke Mann in Asien“ veröffentlicht hatte.
Das sei „rassistisch“, wetterte das chinesische Außenministerium
und verlangte eine Entschuldigung.

Nachdem diese ausblieb, wurden drei Journalisten
des „Wall Street Journal“ des Landes verwiesen.
Zwei chinesische Oppositionelle, die es gewagt
hatten, das Krisenmanagement von Staatschef Xi
Jinping zu kritisieren, wurden kaltgestellt – der eine
verhaftet, der andere unter Hausarrest gestellt. Der
naheliegende Vorwand: Quarantäne aus Sicherheitsgründen.
Peking hat die Bekämpfung des Coronavirus zum
„Krieg des Volkes“ erklärt. Wer Zweifel an der Führung
äußert, wird behandelt wie ein Verräter. Auch
die öffentlichen Aufschriften sind entsprechend
martialisch getextet: „Diejenigen, die ihr Fieber nicht
melden, sind Klassenfeinde, die sich unter das Volk
gemischt haben.“ Oder: „Jeder, dem Sie auf der Straße
begegnen, ist ein wilder Geist, der Ihnen nach
dem Leben trachtet.“Insgesamt jedoch stehen die Zeichen im dritten
Monat der Coronavirus-Krise eher auf Entspannung
der Lage als auf Katastrophe.

 

Doch dank Sars-CoV-2 haben wir etwas über uns
als Weltgemeinschaft gelernt: Wir waren einander
noch nie so nahe. Wir waren noch nie so widerstandsfähig.
Und wir waren noch nie so ängstlich.