Landvermessung
Ein Grundmuster trifft bei der Bewältigung der Corona-Krise auf alle Staaten zu: Mit schnellen und entschlossenen Maßnahmen wird die Pandemie unter Kontrolle gebracht. Zögerlichkeit ist kontraproduktiv es sei denn, man hält HunderteTote mehr für akzeptabel.
D er Einwand kommt fast reflexartig: unzulässig,verzerrend, irreführend . Diese Replik folgt, wenn im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Vergleiche zwischen Ländern angestellt werden vor allem in Bezug auf die jeweiligeDramatik der Ereignisse und die Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen. Fraglos existieren nationale Besonderheiten, die Gegenüberstellungen erschweren und anfällig für Fehlinterpretationen machen: unterschiedliche statistische Erfassung, klimatische Bedingungen,politisches System, Bevölkerungsdichte, geografischeLage. Beispielsweise ist es nicht einerlei, ob man in Neuseeland wohnt oder in Belgien auf einer locker besiedelten Insel also oder aber in einer Region im Herzen Europas mit vielen Menschen auf engem Raum und äußerst regem Verkehr. Doch zum einen kommt man um Ländervergleiche trotz aller Abweichungen nicht herum, wenn manwissenmöchte, wie sich der jeweilige Umgang mit der Krise auf Trends bei den Erkrankungs- und Todeszahlen auswirkt. Zum anderen lassen sich, egal wo auf dem Globus, zumindest zwei Faktoren identifizieren, welche die Dynamik der Pandemie prägen. Erstens stechen stets größere lokale Ausbruchsereignisse ins Auge, von denen die Übertragungsketten ihren Ausgang nahmen. Das Virus verbreitete sich eben nicht gleichförmig durch die Gesellschaft, sondern ging immervon regionalkonzentrierten, eruptiven Geschehnissen aus (siehe profil 17/2020). In Österreich waren das die hinlänglich bekannten Feten in Tiroler Skiorten, in der Schweiz war es mit einiger Sicherheit der intensive Grenzverkehr zu Norditalien. In vielen Ländern, darunter Großbritannien, erwiesen sich Alters- und Pflegeheime als wahre Brutstättenfür solche Infektionscluster. In Island legten vor allem heimgekehrte Wintersporttouristen den Grundstein für die Verbreitung von SARS-CoV-2. Island nahm äußerst penible und umfassende Tests vor, und daher weiß man zum Beispiel, dass 65 Prozent der Personen in einer der untersuchten Stichproben international gereist waren und mehr als 85 Prozent von diesen in die Alpen Österreichs, Italiens oder der Schweiz beziehungsweise nach China. Insofern hatten manche Länder schlicht mehr Pech als andere, weil bei ihnen anfangs größere Infektionsherde entstanden.
Nun kommt allerdings Faktor zwei ins Spiel: die Reaktion des jeweiligenLandes auf diese Situation. Und hier zeigt sich überall dasselbe klare Muster: Je schneller und rigoroser Maßnahmen verhängtwurden, desto eher ließ sich die Ausbreitung kontrollieren. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das auch keine Überraschung, sagt der Wiener Virologe Norbert Nowotny: Es handelt sich nun mal um eine Tröpfcheninfektion, und da ist eben die physische Distanz entscheidend. Wer dabei allzu zögerlichund halbherzig vorgehe, könne zudem Versäumnisse in der Frühphase später schwerlich wettmachen. Ein verspätetes Agieren zu Infektionsbeginn kann kaum mehr aufgeholt werden , so Nowotny.
Österreich fuhr das öffentliche Leben flott und entschlossen herunter, die Schweiz dagegen tolerierte über Wochen den munteren Grenzverkehr und rang sich erst spät zu scharfen Maßnahmen durch und ist nun (bei ähnlicher Testdichte) mit doppelt so vielen Infizierten und drei Mal so vielen Toten konfrontiert. Belgien wiederum mit mehr als 7000 Toten Mitte voriger Woche kann zwar ungünstige Rahmenbedingungen wie eine hohe Einwohnerdichte und intensiven Durchreiseverkehr geltend machen, und auch die Praxis, tendenziell eher zu viele Verstorbene zu den Corona-Opfern zu zählen, mag die Statistik beeinflussen. Doch evident ist außerdem, dass das Virus anfangs großzügig in Altersheime und Spitäler eingeschleppt wurde, wo das Personal mangels Masken weitgehend ungeschützt arbeitete. Spät und hektisch gesetzte Eindämmungsversuche halfen nicht mehr: Mit über 630 Toten pro Million Einwohner hält Belgien den betrüblichen Rekord.
Doch was ist mit Schweden, das zuletzt verstärkt in den Fokus geriet und als eine Art Gegenentwurf zum mehrheitlich eingeschlagenen Weg gehandelt wurde? Länder wie Schweden bekommen jetzt sehr deutlich die Rechnung präsentiert, sagt der Tropenmediziner und Infektionsexperte Herwig Kollaritsch. In der Tat ist es schwer nachzuvollziehen, dass manche Kommentatoren immer noch behaupten, Schwedens alternativer Ansatz sei der klügere.
Betrachtet mandie Zahlen, klingt das nach Wunschdenken und der Hoffnung, man hätte ohne massive Einschränkungen vielleicht gemütlich durch die Krise navigieren können oder nach einer grundsätzlichenAbneigung gegen Mehrheitsmeinungen,die inzwischen gerne als Mainstream verachtet werden. Pro 100.000 Einwohner verzeichnet Schweden mehr als drei Mal so viele Tote wie Österreich. In absoluten Zahlen waren es Mitte voriger Woche ungefähr 1800 Todesopfer mehr. Sind das wirklich akzeptable Werte, die man in Kauf nehmen muss, um das Leben nicht zu sehr einzuengen, wie Befürworter des schwedischen Modells meinen? Zudem deutet wenig darauf hin, dass sich am Ende die Zahlen tendenziell angleichen werden, wie manche meinen eher im Gegenteil: Während sich die Kurve der Infektionen in Deutschland und Österreich zuletzt merklich abgeflacht hat, ist ein solcher Knick in Ländern wie Schweden und den Niederlanden nicht erkennbar (siehe
Grafiken oben): Die Kurven deuten vorerst ungebrochen nach oben, und viele Wissenschafter glauben, dass sich die Schere sogar noch weiter öffnen wird. Eigentlich ist der Blick nach Schweden irritierend, denn das Land hat sonst eher besonders umsichtig aufgesundheitliche Herausforderungen reagiert, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Schweinegrippe. Sobald ein Impfstoffverfügbar war, wurden extrem rasch hohe Impfraten erzielt mit 60Prozent der Bevölkerung rangierteSchweden an der Weltspitze.Nun ist es vor allem ein Mann,der den schwedischen Weg zu bestimmen scheint: Anders Tegnell, Epidemiologe der nationalen Gesundheitsagentur, dessen Aussagen im Kollegenkreis inzwischen vor allem Kopfschütteln auslösen sowie die Vermutung befeuern, er bleibe mit Bestemm bei seiner Strategie,um Irrtümer in der Anfangsphase abzuschwächen. So meinte Tegnell jüngst in einem Gesprächmit dem Fachmagazin Nature , er setze sein Land keinem unvertretbaren Risiko aus, schließlich sei es nirgendwo in Europa gelungen, die Ausbreitung erheblich zu verlangsamen . Seine Behauptung, die Ansteckung vor dem Einsetzen der Symptome sei eher ein Randphänomen,ist schlicht CORONAIN ZAHLEN Infektions- und Todeszahlen absolut sowie pro Million Einwohner; plus die jeweilige Testdichte. Die Kurven zeigen die Infektionsentwicklung:In Ländern mit strengen Maßnahmenflachen sie ab. In anderen steigen sie weiter an. Auswirkungen einer Pandemie Quellen: United Nations, Johns Hopkins falsch: Die meisten Viren streuen Infizierte im kon- University, Stand: 28.04.2020 kreten Fall kurz vor dem Auftreten der Symptome, und genau deshalb flammten allerorten Infektionsherde auf, sofern die Menschen nicht an Zusammenkünften gehindert wurden. Seltsam auch Tegnells Einschätzung, grundsätzlich habe man richtig gehandelt, nur in den Pflegeheimen sei die Problematik leider unterschätzt worden. Tatsächlich scheinen die Todesraten dort besonders hoch zu sein. Allerdings war es ausgerechnet ein Eckpfeiler der schwedischen Vorgangsweise,die alten und gefährdeten Personen speziell zu schützen, das Leben aber sonst möglichst wenig zu tangieren. Mit anderen Worten: Just mit der Hauptzielsetzung ist man eindrücklich gescheitert was wiederum die Meinung der meisten Experten untermauert, wonach es auf Dauer gar nicht möglich ist, einzelne Personengruppenwirksam zu schützen, wenn alle anderen tun können, wonach ihnen der Sinn steht. Dabei hat Schweden durchaus einschlägige Maßnahmen ergriffen: Mehr als 49 Menschen dürfen keine Treffen abhalten, höhere Schulen sind geschlossen, es bestehen Einreisebeschränkungen.
. nicht so, dass Schweden nichts getan hat , sagt Kollaritsch: Es war bloß halbherzig und nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Mit der eher zögerlichen Light-Praxis aber dämmt man offenbar weder eine Pandemie ein, noch erzielt man die häufig ins Treffen geführte Herdenimmunität. Es mögenmehr Menschen infiziert sein als etwa in Österreich (solide Schätzungen sind schwierig, und die Testdichte ist nicht einmal halb so hoch wie bei uns), doch von einer Durchseuchung von 50 oder mehr Prozent ist man unter Garantie unerreichbar weit entfernt. Selbst mit einer hypothetischenHerdenimmunität wäre womöglich wenig gewonnen:Vorerst ist unbekannt, wie lange die Schutzantwort des Immunsystems anhält ob wenige Monate oder doch zwei Jahre wie bei SARS. Denkbar wäre sogar, dass sich die Immunantwort vielleicht gar nicht gegen jene kritischen Stellen des Virus richtet, die dessen Andocken bewerkstelligen. Das würde neuerliche Infektionen begünstigen.
Bis zu einem gewissen Grad ist Schweden aber noch in einer vorteilhaften Lage: Es gibt zwar den Ballungsraum Stockholm, auf den sich auch das Infektionsgeschehen konzentriert. Doch zugleich dominiert viel Landschaft, wo die Menschen notgedrungen Distanz halten anders als in den Niederlanden, die ebenfalls eine Sparvariante an Maßnahmen verfolgen und vorige Woche, gemessen an der Einwohnerzahl, gut vier Mal mehr Tote verzeichneten als Österreich. Wenden wir den Blick noch kurz auf die Länder des Balkan, die selten Erwähnung finden. Hier sehen wir das krasse Gegenteil zu Schweden oder den Niederlanden: sehr strikte Maßnahmen,teils weit schärfer als in Österreich, zugleich verblüffend geringe Erkrankungs- und Todeszahlen. In Kroatien mag das zum Teil an den niedrigeren Testraten liegen, in Slowenien hingegen wird mit 24 Tests pro 1000 Einwohner ähnlich intensiv nach Infizierten geforscht wie in Österreich (knapp 27 pro 1000 Einwohner). Kroatien setzte ungeachtet der Testdichte äußerst strenge Vorschriften um: eine sehr frühe Schließung der Grenzen, Sperre aller Geschäfte außer der Supermärkte und Apotheken,und sogar der Verkehr zwischen den Landkreisen war bis vor Kurzem untersagt; man durfte nicht einmal zu Verwandten in einen Nebenort fahren. Vergangene Woche waren im Land mit rund vier Millionen Einwohnern knapp 70 Corona-Toteerfasst. Ist es trotzdem möglich, dass wir den abruptenLockdown vorschnell als einzig sinnvolle Strategie anführen und zugleich Länder wie Schweden zu Unrecht kritisieren, dass sich am Ende Anders Tegnells Route gegen den Strom als zielführend erweist? Das ist angesichts der aktuellen Entwicklungen und der molekularbiologischen Zusammenhänge zwar sehr unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen. Richtige Evidenz hat man erst hinterher , sagt Herwig Kollaritsch. Alle Pandemieplänewaren bisher auf die Influenza zugeschnitten. Und Norbert Nowotny meint: Welcher Zugang zur Bekämpfung letztlich der beste war, wird erst im Nachhinein schlüssig zu evaluieren sein.
Der Auftakt zu wissenschaftlichen Ländervergleichen ist bereits erfolgt. Laut Nature läuft ein Forschungsprojekt, an dem unter anderem die University of Oxford und der Complexity Science Hub Vienna beteiligt sind. Dabei sollen Hunderte nationale Maßnahmen von Bodenmarkierungen zur Einhaltung von Abständen bis zur Schulschließung mit Erfolgen bei der Eindämmung der Pandemie abgeglichen werden. Über allem steht die Frage: Wessen Coronavirus-Strategie funktioniert am besten?