Ob ihr recht habt oder nicht…

 

 

Wie geht es weiter mit den täglichen Corona-Infektionen?Wann wird es kritisch in den Spitälern? Politiker berufen sich gerne auf die Prognosen von Experten. Aber sonderlich treffsicher war die Wissenschaft bisher nicht.

 

 

Von Rosemarie Schwaiger

 

 

Wieder einmal sieht es nicht gut aus: “Covid-Prognose: Spürbarer Anstieg bei Spitalspatienten erwartet”, titelte die “Austria Presse Agentur” am Mittwochnachmittag vergangener Woche. “Experten gehen von mehr als 300 intensivpflichtigen Covid-Patienten in Spitälern aus”, schrieben die Kollegen. Das wäre ein Plus von rund 30 Prozent – und das in nur zwei Wochen

 

Die vierte Welle scheint also doch noch richtig Schwung aufzunehmen. Oder ist es vielleicht gar nicht so schlimm? Unterschlagen wurde in der Berichterstattung über den jüngsten Bericht des Covid-Prognosekonsortiums, dass die Wissenschafter für ihre Vorhersage einen ziemlich großzügigen Korridor wählten. Wörtlich heißt es: Mit 68 % Wahrscheinlichkeit liegt der ICU-Belag (ICU steht für Intensive Care Unit, Anm.) am 20.10. zwischen 256 und 380.” Mit anderen Worten: Alles ist möglich. Am Donnerstag korrigierte das Konsortium die eigene Prognose wegen eines Datenimportproblems”. Jetzt rechnen die Fachleute am 20. Oktober nur noch mit 256 Intensivpatienten.

 

 

Seit Beginn der Pandemie vor mittlerweile 19 Monaten verweist die Politik immer gerne auf die Vorhersagen von Experten, wenn sie neue Einschränkungen oder (das war seltener) Erleichterungen für die Bürger bekannt gibt. Allerdings stimmten die Prognosen häufig nicht. Und mitunter war das ein Glück: In schlechter Erinnerung sind etwa jene 100.000 Covid-Toten, die Bundeskanzler Sebastian Kurz im März 2020 in Aussicht stellte, falls die Bürger sich nicht an die rigorosen Maßnahmen halten sollten. Einige Mathematiker und ein Biologe hatten diese Zahl ausgetüftelt (profil 16/2020). Die Horrorprognose war bekanntlich falsch. Nirgendwo auf der Welt gab es, proportional zur Bevölkerungsgröße, auch nur annähernd so viele Opfer. Um die Vorhersagen auf ein professionelles Level zu heben, wurde im April 2020 das Covid-Prognosekonsortium ins Leben gerufen. Es besteht aus Experten der Gesundheit Österreich Gmbh, der Technischen Universität und des an der Uni Wien angesiedelten Complexity Science Hub. Jede dieser Einrichtungen erstellt mit mathematischen Modellen eine Prognose der Fallzahlen und der belegten Intensivbetten – für die einzelnen Bundeslän der und für ganz Österreich. Jeweils am Dienstagnachmittag werden, laienhaft ausgedrückt, diese Ergebnisse auf einen Haufen geworden, um einen Mittelwert zu eruieren. Bald darauf berichten dann die Medien, wie es nach Ansicht des Konsortiums mit der Pandemie weiter gehen wird.

 

 

Dass die Vorhersagen so präzise sind, wie Politiker und Journalisten das gerne hätten, glauben indes nicht einmal deren Schöpfer: Hundertprozentige Genauigkeit ist nicht möglich”, sagt etwa Florian Bachner, Ökonom bei der Gesundheit Österreich (GÖG). Das Fallgeschehen folgt oft keinen engmaschigen Regeln. Vor zwei Wochen gab es in Tirol eine Senioren-Busreise nach Italien. Alle Teilnehmer infizierten sich. Das führte zu einem Cluster mit über 60 Fällen. So etwas kann man nicht vorhersagen.” Anfang September hätten die Zahlen laut Konsortium eigentlich wieder deutlich nach oben gehen sollen. Aber sie taten es nicht, im Gegenteil, sie sanken. “Natürlich liegen wir nicht immer richtig. Das wäre auch seltsam, wir haben ja keine Glaskugel”, sagt Niki Popper, Simulationsforscher an der TU-Wien. Es gehe mehr darum, die immer komplexere Systemdynamik zu verstehen und die Zahlen richtig zu interpretieren. Das Konsortium habe auch noch andere Aufgaben als das Berechnen der Prognosen: “Durch die Verknüpfung von bestätigten Fällen mit verschiedenen Vakzinen haben wir beispielsweise im Modell festgestellt, dass mit Johnson & Johnson Geimpfte in den österreichischen Zahlen im Vergleich zu Nichtgeimpften nur etwa um die Hälfte besser geschützt sind”, erzählt Popper. Sinnvoll seien die Bemühungen trotz gelegentlicher Irrtümer, glaubt auch Peter Klimek, Komplexitätsforscher am Complexity Science Hub. “Wenn wir keine Prognosen machen, überlassen wir die Spielwiese denen, die meinen, die Pandemie sei eh vorbei und wir können alle Maßnahmen sofort aufheben.”

 

 

Falsche oder auch unpräzise Vorhersagen sind also besser als gar keine? Dieser Theorie muss man sich nicht anschließen. Als es zum Beispiel im Frühling um die Frage ging, ob ganz Österreich dem Vorbild der Ostregion folgen und ebenfalls wieder komplett zusperren sollte, war das Prognosekonsortium keine große Hilfe: Am 30. März vorhergesagt wurden eine auf über 300 steigende Inzidenz und 670 belegte Intensivbetten. Beide Notfälle blieben zum Glück aus, und zwar deutlich.

 

 

Im Mai hatte der NEOS-Abgeordnete Gerald Loacker die Prognosen der vorangegangenen Monate einem Realitätscheck unterzogen. Ergebnis: In zwölf Berechnungen seit Februar habe das Konsortium zwei Mal die Entwicklung annähernd genau prognostiziert, ein Mal unter-, neun Mal überschätzt. Bemerkenswert sei, dass eine simple Trendfortschreibung mit dem Computerprogramm Excel “in der Mehrheit der Fälle weniger von der tatsächlichen Infektionsentwicklung abwich als die komplexen Prognosen des Konsortiums”, schrieb Loacker in einer parlamentarischen Anfrage an den Gesundheitsminister. Dieser antwortete ausführlich: “Solche Vergleiche seien nichtzulässig, hieß es etwa. Die retrospektiv erstellten Modellergebnisse unterliegen durch die zusätzlich verfügbaren Informationen starken kognitiven Verzerrungen, die einen fairen Vergleich verunmöglichen.” Das heißt in Kürze: Hinterher ist man immer klüger. Außerdem betont der Gesundheitsminister die “seismographische Frühwarnrolle” der Prognosen. “Möglicherweise wäre ohne die frühe Warnung vor der dritten Welle durch das Konsortium diese früher und stärker ausgefallen.”

 

 

Besteht die Hauptaufgabe der Modellrechner also darin, den Teufel an die Wand zu malen? Alle drei Experten dementieren das entschieden. Es stimme auch nicht, wird betont, dass man sich bei unterschiedlichen Annahmen grundsätzlich auf die pessimistischere Variante einige. Er halte es für falsch, so wie einige Kollegen im Wissenschaftsbetrieb ständig zwischen zwei Extremen zu wechseln, sagt Niki Popper. “Wir werden nicht alle sterben, aber die Pandemie ist auch noch nicht vorbei.” Peter Klimek, der in den Medien besonders häufig als Kassandra auftritt, will sich ebenfalls keinen Hang zum Alarmismus vorwerfen lassen. “Ich weiß natürlich, dass man nicht mehr ernst genommen wird, wenn man dauernd ,Hilfe, der Wolf kommt” schreit.  Allerdings räumt er ein, dass die Prognosen des Konsortiums für die Politik mitunter recht praktisch seien: “Wir kommunizieren breite Unsicherheitsintervalle. Jeder kann sich aussuchen, ob er lieber den oberen oder den unteren Wert glaubt -je nachdem, wie es politisch gerade opportun ist.”

 

 

Die Forscher beklagen die schlechte Datenlage, mit der sie arbeiten müssten. Die täglichen Fallzahlen seien oft unvollständig, viele Nachmeldungen würden das Bild verfälschen. Dazu kommen sich verändernde Rahmenbedingungen, die aus der schönsten Prognose Makulatur machen können. Einer der Hauptübeltäter ist das Wetter: “Die pessimistischen Vorhersagen der jüngeren Vergangenheit seien auch deshalb nicht eingetreten, weil es im September so warm und niederschlagsarm war”, sagt Florian Bachner von Gesundheit Österreich. Abrupte Trendwenden sind ebenfalls sehr schwer vorherzusagen. Ich kenne weltweit kein Prognoseinstitut, das so etwas zuverlässig schafft.” Auch wenn natürlich jede falsche Vorhersage ein wenig peinlich ist, können sich die heimischen Experten damit trösten, dass es anderswo auf der Welt nicht besser läuft. Die Geschichte dieser Pandemie ist auch eine der großen Irrtümer und der falschen Prognosen. Vielleicht wird man eines Tages zugeben müssen, dass es schlicht nicht möglich ist, die Verbreitungswege und -geschwindigkeit eines respiratorischen Virus halbwegs präzise vorherzusagen. “Wenn Sie mich heute fragen, wo wir in einem Monat stehen, muss ich antworten: Wir kennen die absoluten Zahlen nicht. Niemand kennt die. Aber wir verstehen immer besser, welche Effekte sich wie auswirken”, sagt Niki Popper. Kollege Peter Klimek wäre durchaus offen für eine Art Wettbewerb. Wir bräuchten ein Scoring-System, in dem alle Expertenaussagen der letzten eineinhalb Jahre gecheckt werden. Sollte sich herausstellen, dass ich am öftesten falschlag, halte ich ab sofort den Mund.”