Die Corona-Fallzahlen sinken – Grund zum Aufatmen?
Die Corona-Inzidenz fällt seit einigen Wochen kontinuierlich in Berlin und Brandenburg. Was man beim Lesen dieser guten Nachrichten beachten muss und wozu Experten und Expertinnen jetzt raten, erklärt Haluka Maier-Borst.
Es war ein langes Luftanhalten. Der zweite bundesweite Lockdown begann kurz vor Weihnachten. Damit war klar, dass für die folgenden Wochen ein zahlenmäßiger Blindflug ansteht: Erst würde es Zeit brauchen, bis sich die Maßnahmen auswirken. Dann war absehbar, dass die aus der Feiertagswoche gemeldeten Corona-Fallzahlen wohl zu niedrig ausfallen, weil weniger getestet und gemeldet wird – und die Zahlen aus der Woche danach zu hoch, weil es einen Melderückstand gibt.
Erst jetzt kristallisiert sich darum eine Gewissheit heraus: Der Lockdown scheint zu wirken.
Die Zahlen deuten vorsichtig nach unten
In den ersten “normalen” Wochen seit dem Jahreswechsel zeichnet sich ein deutlicher Abwärtstrend ab, bundesweit wie regional. Aktuell melden Berlin und Brandenburg rund 25 Prozent weniger Fälle als in der Vorwoche. Ähnliches deuten auch die Zahlen der Intensivstationen an. Der Zahl der Covid-19-Patienten ist immer noch hoch, aber der Trend zeigt leicht nach unten.
Und doch ist auch klar: Es liegt noch ein gutes Stück Weg vor allen. Nur wie lang dieser ist, ist schwer abzuschätzen. Denn: Der Vergleich der Zahlen über Zeiträume, länger als ein paar Wochen, ist schwierig, weil sich immer wieder verschiedene Faktoren verändert haben – und wohl auch noch weitere Faktoren hinzukommen werden.
1. Andere Teststrategie sorgt wohl für höhere Dunkelziffer
So wurde erst lokal die Nachverfolgungsstrategie und schließlich bundesweit die Teststrategie geändert. Der Fokus verschob sich, vor allem ältere Menschen wurden auf Corona getestet, die eine höhere Gefahr für einen schweren Verlauf haben. Das spricht dafür, dass die Dunkelziffer an Fällen wohl aktuell größer ist, als sie es im Sommer war. Und auch dass der sogennante Lockdown light im November und Dezember wohl nicht ausgereicht hat, um das Wachstum abzuflachen.
Die epidemiologische Modelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation sagt: “Dass sich die Kurve für die neuen Fälle zeitweilig abflachte im Lockdown light, hatte auch mit der geänderten Teststrategie zu tun. Denn bei den Zahlen aus den Krankenhäusern und bei den Todeszahlen sehen wir nun eben nicht dieses wochenlange Verharren der Kurven auf einem Niveau, sondern einen weiteren Anstieg.”
2. Auch die Antigen-Schnelltests verzerren die Zahlen
Auf der anderen Seite kamen die Antigen-Schnelltests hinzu, die sich auf verschiedene Art und Weise auf die Statistiken auswirken.
Zum einen kann man mit ihnen schneller mehr Leute zu testen. Idealerweise ermöglichen sie also, besser das Geschehen zu überblicken. Zum anderen sind sie aber fehleranfälliger: Menschen, die sich gerade erst angesteckt haben und noch wenig Sars-CoV-2-Viren im Rachen haben, können fälschlicherweise als negativ durchgehen [medrxiv.org]. Und andersrum kann es auch hin und wieder passieren, dass eine Person mit positivem Testergebnis eigentlich gar nicht infiziert ist.
Darum werden positive Antigen-Tests immer mit PCR-Tests gegencheckt [rki.de]. Die Folge: Es laufen dadurch mehr Patienten bei PCR-Tests auf, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, positiv zu sein. Dass also in den letzten Wochen die Positivquote bei den PCR-Tests anstieg – normalerweise ein Anzeichen, das nicht genügend Fälle entdeckt werden – könnte auch daher kommen.
3. Durch die britische Variante wird alles komplizierter
Und es wird noch verzwickter – durch die neue Virusvariante, die in Großbritannien entdeckt worden ist. Noch hat sie keine große Auswirkung auf das Infektionsgeschehen. Geht man aber beim Verhindern ihrer Ausbreitung so radikal vor wie im Humboldt-Klinikum und nimmt ganze Krankenhäuser aus der Versorung, kann sich die Zahl der verfügbaren Intensivbetten schlagartig verändern. Daher warnen Experten davor, dies zur Regel zu machen.
Ob sich die britische Variante, die sich nach ersten Erkentnissen deutlich leichter überträgt, durchsetzt, scheint keine Frage zu sein – eher, wie lange es bis dahin dauert. Wie groß die Auswirkung davon ist, lässt sich noch schwer abschätzen.
Anfangs hatten Forscher geschätzt, dass die britische Variante B1.1.7 um 40 bis 70 Prozent ansteckender ist als bisherige Varianten. Inzwischen sieht es eher danach aus, dass etwas niedrigere Zahlen stimmen. So hält der epidemiologische Modellierer Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien eine Studie der Universität Oxford für solider, die von 35 Prozent mehr Infektiosität ausgeht [medrxiv.org], weil sie gewisse Verzerrungen vermeidet. “Aber auch wenn wir jetzt bei einer erhöhten Übertragbarkeit von ‘nur’ rund 35 Prozent mehr reden, ist das kein Grund zur Entwarnung”, sagte er rbb|24.
Epidemiologische Modelliererin Priesemann vom Max-Planck-Institut geht von ähnlichen Werten aus und verweist unter anderem auf Nachverfolgungsstudien in Großbritannien [gov.uk] , die ebenfalls eine Steigerung um rund ein Drittel zeigten. Und auch sie sagt, dass man diese Steigerung nicht unterschätzen solle. “Das ist nach bisherigen Modellierungen ungefähr in der Größenordnung des Effekts, den Schulschließungen und geschlossene Universitäten zusammen ausmachen.” Darauf deute auch der Umstand, dass erst mit dem Schließen der Schulen die Fallzahlen in Großbritannien sanken.
Es gibt aber Hoffnung
Die Entwicklung in Großbritannien zeigt damit aber auch: Selbst mit der Virusvariante B.1.1.7 lässt sich die Ausbreitung des Virus eindämmen. Auch vor diesem Hintergrund plädieren Priesemann und Klimek daher für ein Weiterführen des Lockdowns und ein weiteres Runterbringen der Fallzahlen – nur so könne man die Lage in den Griff kriegen. “Wir haben gesehen, dass viele Freiheiten und hohe Zahlen nicht zusammenpassen, sondern dass uns dann die Lage schnell aus dem Ruder läuft”, sagt Priesemann. “Wir sollten zehn Fälle pro 100.000 pro Woche anpeilen – anstatt die 50 oder irgendein Datum. Sonst verspielen wir wieder, was wir jetzt uns erarbeiten.”
Bei niedrigen Fallzahlen jedoch sei auch mit der britischen Variante die Situation stabiler. Kleinere Fehler fallen weniger ins Gewicht, einzelne Ausbrüche könnten besser wieder eingefangen werden. “Mit niedrigeren Fallzahlen ist viel Normalität wieder möglich und wir können für die Eindämmung das nutzen, was wir gelernt haben”, sagt Priesemann.
Eine Corona-Maßnahme werde uns wohl aber auch noch weit über den Lockdown hinaus begleiten, sagt Priesemanns Kollege Eberhard Bodenschatz, der sich mit der Ausbreitung von Aerosolen beschäftigt: “Auf Masken zu verzichten, das ist und bleibt auch bei niedrigen Zahlen vorerst riskant.”