“Impfen allein kann es nicht sein” – wie Modellierer die aktuelle Entwicklung erklären

 

 

Seit einigen Wochen verbessert sich die Corona-Lage deutlich. In vielen Kreisen liegt die Inzidenz unter den Grenzwerten. Doch wie konnte das so schnell passieren? Eine Suche nach Erklärungen. Von Haluka Maier-Borst

 

Zu langsam, zu träge, zu wenig. Sei es das Impftempo, sei es der Beschluss der Bundesnotbremse oder andere Maßnahmen. Viel Kritik war von Januar bis April zu hören, während die Fallzahlen weiter stiegen. Und jetzt? Die Inzidenzen rauschen seit Wochen nach unten. Die Erleichterung ist groß, aber auch die Ratlosigkeit. Denn dass man so deutlich die Wende schafft, überrascht viele, auch vor dem Hintergrund der ansteckenderen Coronavirus-Variante B.1.1.7.

 

Wieso bessert sich die Lage also derart rapide in Berlin, Brandenburg, Deutschland, ja in ganz Europa? rbb|24 hat sich vorsichtig auf die Suche nach Erklärungen gemacht.

 

1. Das Impfen

 

Impfen wirkt. Das ist immer wieder zu lesen und stimmt in doppelter Hinsicht. Zum einen erkranken die Geimpften deutlich seltener, egal ob nun mit Astrazeneca, Pfizer-Biontech, Moderna oder Johnson & Johnson gespritzt wurde. Aber sie geben auch deutlich seltener das Virus weiter, selbst wenn sie erkranken. Das zeigte eine Studie der englischen Gesundheitsbehörde PHE [khub.net].

 

Und doch kann das alleine den aktuellen Rückgang wohl nicht erklären, vor allem nicht die Trendwende schon Ende April. Zu diesem Zeitpunkt hatte gerade einmal rund ein Viertel der Deutschen eine Impfung hinter sich. Zu wenige, um einen derartigen Wechsel zu erklären.

 

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Hinzukommt, dass man zunächst die Älteren geimpft hat. Das macht Sinn, weil man so am meisten Leben pro Impfung rettet. Gleichzeitig haben aber die Alten weniger Kontakte als die Jungen. Sie zu impfen, bremst also die Pandemie weniger stark.

 

Dirk Brockmann, epidemiologischer Modellierer an der Humboldt-Universität Berlin, veranschaulicht das so: “Wenn die Herdenimmunität bei ungefähr 80 Prozent liegt und sie 40 Prozent schon geimpft haben wie jetzt, heißt das eben nicht, dass man schon zur Hälfte durch ist. Je nach dem wie die Kontakte verteilt sind, ist das deutlich weniger.”

 

Dass die Impfungen ein trügerisches Argument sind, merkt man, wenn man sich zum Beispiel anschaut, wie in Israel und Großbritannien die Inzidenzen entwickelt haben. Wer auf die Grafik schaut, könnte den Eindruck bekommen, dass Großbritannien vor Israel lag bei den Impfungen. Tatsächlich war es umgekehrt.

 

Das Beispiel Israel-Großbritannien verdeutlicht damit auch etwas, was die Modellierer und andere Experte immer wieder betont haben: Es gibt nicht die einzelne Maßnahme, die die Zahlen senkt. Es ist der Mix der Maßnahmen, der sich zwischen den Ländern teils recht unterscheidet.

 

Dass in Israel die Inzidenzen ab Mitte Februar herunter gingen, passt gut dazu, dass ab diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der Bevölkerung geimpft war. Dass dies in Großbritannien ebenfalls der Hauptgrund war und im Rest Europas aktuell als wesentliche Erklärung funktioniert, ist dagegen eher unwahrscheinlich.

 

Peter Klimek, der als Modellierer an der medizinischen Universität Wien arbeitet und die österreichische Regierung berät, beziffert den Effekt der Impfungen in etwa so: “Wir gehen davon aus, dass man beim derzeitigen Impftempo jede Woche ein halbes bis ein Prozent vom R-Wert wegimpft, der ja relevant für die Neuinfektionen ist. Das Impfen alleine kann es also nicht sein, das wäre zu wenig”, sagt er.

 

2. Die Maßnahmen

 

Das erwähnte Beispiel Großbritannien zeigt darum wohl besser, wie sehr Maßnahmen wirken können. Der besonders lange und strenge Lockdown war wahrscheinlich der Hauptgrund, wieso man trotz weniger Impfungen pro Kopf die Zahlen schneller senken konnte als Israel [ft.com]. Eine Tatsache, die auch dem britischen Premierminister Boris Johnson inzwischen klar zu sein scheint [guardian.co.uk].

 

Und teilweise funktionieren die Maßnahmen wohl auch hierzulande als Erklärung. Richtig ist, dass schon weit vor der Bundesnotbremse Maßnahmen verschärft wurden. Ähnliches geschah in anderen Teilen Europas. “Der Anstieg durch die ansteckendere Variante B.1.1.7 fiel dadurch flacher aus als in vielen anderen Ländern weltweit”, sagt der Wiener Modellierer Klimek. Zudem habe die immer größere Verfügbarkeit von Tests dazu geführt, dass zunehmend weniger Infektionen unentdeckt blieben.

 

Sein Berliner Kollege Brockmann verweist außerdem auf Rückkopplungseffekte. Weil die Zahlen steigen und mehr über Verschärfung von Maßnahmen diskutiert wird, beschränken Menschen ihr Verhalten mehr. Ein Effekt, der schon vor mehr als zehn Jahren in mehreren Studien vorgeführt [royalsocietypublishing.org] und diskutiert wurde [pnas.org]. Dass dieser Effekt recht groß ist, hat man beispielsweise schon beim ersten Lockdown im letzten Jahr gesehen. Dort sank die Mobilität noch bevor die Maßnahmen in Kraft traten.

Aktuell ist immer noch ein leichter Rückgang der Mobilität zu verzeichnen im Vergleich zu 2019 [covid-19-mobility.org]. Allerdings nicht deutlich mehr als schon in vorherigen Monaten. Denkbar ist darum auch, dass die Zahl der Tätigkeiten nicht unbedingt abnahm – aber eben mit mehr Maßnahmen wie Maske, Abstand, Schnelltest und dergleichen.

 

Trotzdem gibt der Wiener Klimek zu, dass trotz Impfungen und den verschärften Maßnahmen der aktuelle Abwärtstrend überraschend ist. “Die Entwicklung liegt schon noch innerhalb der Szenarios, die wir vor ein paar Wochen für möglich hielten. Aber es war eines der unwahrscheinlicheren”, sagt er.

 

3. Die Saisonalität

 

Klimek vermutet darum vor allem in der Saisonalität einen unterschätzten Faktor und erklärt, warum dies trotz der regnerischen Monate sein könnte. “Wenn wir von Saisonalität reden, denken wir meist nur daran, dass mehr Treffen draußen stattfinden als drinnen. Aber es gibt auch andere Aspekte. Wenn wir zum Beispiel weniger Heizen und dadurch die Aerosole mit den Viruspartikeln weniger austrocknen, können sie weniger lange in der Luft schweben. Die Folge: Sie bleiben kürzer in der Luft und die Gefahr sich im Raum anzustecken, ist geringer”, sagt er.

 

Auch stärkeres UV-Licht und ein grundsätzlich stärkeres Immunsystem im Frühling könnten eine Rolle spielen. “Ich sehe da noch eine Menge Hausaufgaben vor uns, um das alles besser zu verstehen”, sagt er.

 

Brockmann glaubt ebenfalls, dass die Saisonalität eine wichtige Rolle spielt. Er betont aber, dass man sie in Kombination mit allen anderen Aspekten sehen müsse. Die Effekte addierten sich und es könne natürlich sein, dass jetzt das bessere Wetter das entscheidende Mü bringt, um die Neuinfektionen zu senken. Aber an den USA im letzten Jahr und den dortigen Ausbrüchen habe man auch gesehen, dass wenn man es bei anderen Maßnahmen schleifen lasse, die Saisonalität alleine wohl nicht reiche.

 

4. Was unklar bleibt

 

Brockmann sieht darum die größten Ungewissheiten eher in einem anderen Bereich: der Struktur von Kontaktnetzwerken. “Wir wissen viel zu wenig darüber, wie in einer Gesellschaft Menschen miteinander interagieren. Also eben nicht nur wie viele Menschen man in einer Woche trifft, sondern wie diese ganzen Menschen miteinander zusammenhängen und zum Beispiel wie häufig darunter jemand ist, der ein Virus in gleich mehrere Haushalte weitertragen könnte”, sagt er.

 

Einig sind sich die beiden Forscher indes darin, dass es noch viele Unwägbarkeiten gebe, von weiteren Mutationen, Impfskepsis bis hin zu Lieferengpässen bei den Impfungen. Entsprechend vorsichtig müsse man mit Modellen umgehen.

 

Zwar seien diese deutlich besser als sie aktuell diskutiert würden. So habe man zum Beispiel bei einer Modellierung, die den Effekt des Vorziehens von Erstimpfungen erörterte, durchaus Inzidenzen von unter 30 bis 50 für möglich gehalten, sagt Brockmann. Jedes Szenario, das aber länger als drei bis vier Wochen versuche in die Zukunft zu schauen, sei im Grunde zum Scheitern verurteilt.