Warum die Berliner Amtsärzte richtig argumentieren – aber falsche Schlüsse ziehen
Nach einem Jahr Corona-Pandemie gehen viele auf dem Zahnfleisch: Einzelhandel und Gastronomie bangen um ihre Zukunft. Eltern fragen sich, welchen Rückstand ihre Kinder schulisch und sozial aus dieser Pandemie mitnehmen. Und auch die Berliner Amtsärztinnen und Amtsärzte haben ihre Belastungsgrenze ein ums andere Mal in den letzten zwölf Monaten zu spüren bekommen.
Man muss das vorausschicken und versuchen, Verständnis für die angespannte Lage der Gesundheitsämter aufzubringen. Denn anders lässt sich das Schreiben der zwölf Berliner Amtsärzte kaum verstehen, dass den Senat auf einen Strategiewechsel drängt. Ein Schreiben, das in seiner Motivation verständlich sein mag, aber wissenschaftlich teils zu Schlüssen kommt, die so nicht zu halten sind.
Mehr Tests senken am Ende die Zahl der Fälle
So sprechen die Amtsärzte davon, dass die Inzidenzzahlen fehlerbehaftet seien, weil sie von Testkapazitäten und dem Testverhalten der Bevölkerung abhingen. Das ist für sich genommen erst einmal richtig. Recht deutlich sieht man zum Beispiel wie an Weihnachten es einen künstlichen Knick bei den Fallzahlen gab. Der hatte wenig damit zu tun, dass das Virus Ferien gemacht hat – aber damit, dass unter anderem Labormitarbeiter und -mitarbeiterinnen eine Pause unter dem Weihnachtsbaum brauchten.
Und dennoch: Trotz solcher Schwankungen folgten sowohl in der ersten als auch in der zweiten Welle auf steigende Inzidenzzahlen mit ein paar Wochen Verspätung auch steigende Zahlen auf Intensivstationen und Pathologien. Dass also das Testverhalten derart grob das Infektionsgeschehen verzerrt, so wie es die Amtsärzte in ihrem Schreiben nahelegen, ist schlicht falsch.
Epidemiologen und Modellierer weisen zudem daraufhin, dass eher andersherum ein Schuh daraus wird: “Ein erhöhtes Testaufkommen sollte im Zweifelsfall bedeuten, dass man Infizierte schneller findet, schneller isoliert und sie deswegen weniger andere anstecken. Sprich mehr Tests sollten mittelfristig eher dazu führen, dass die Inzidenz sinkt”, sagt Ben Maier, epidemiologischer Modellierer von der Humboldt-Universität Berlin. Es ist also ein fataler Fehlschluss zu sagen, dass man allgemein hohe Inzidenzwerte nicht unbedingt als Warnsignal nehmen solle, weil daran vor allem das Testaufkommen schuld sei.
Man kann nicht einzelne Altersgruppen abschirmen
Die Amtsärzte plädieren in ihrem Schreiben zudem für eine neue Form der Betrachtung der Lage. Etwas verklausuliert steht dort: “Das heißt: intensive Maßnahmen der Infektionsprävention bei den vulnerablen Gruppen. Aber auch Anpassung der epidemiologischen Instrumente im Rahmen der Mitigation für andere Personengruppen, (…) wie Schulkinder, um wichtige sozialkompensatorische Aktivitäten zu fördern.”
Gegenüber dem “Tagesspiegel” konkretisieren die Ärzte die Passage und sprechen davon, dass es “in Zukunft eine nach Alterskohorten ausgerichtete Inzidenzanalyse” geben soll [tagesspiegel.de]. Denkbar wäre also, dass man künftig nur auf die Inzidenz bei den Menschen über 60 Jahren schaut. Nur genau das wurde im Herbst bereits diskutiert – und aus guten Gründen verworfen.
Auch hier haben die Ärzte auf den ersten Blick recht. Natürlich sind detailliertere Daten ein Plus. Jedes genauere Hinschauen ist besser als das stumpfe Konzentrieren auf eine einzige Zahl. Und es stimmt, dass in der Regel Kinder und junge Erwachsene milde Verläufe erleben. Aber man kann Alters- und Risikogruppen eben nicht voneinander trennen. Erkrankungen, die bei den gesunden Jungen passieren, springen früher oder später auf die Gruppe der Älteren oder derjenigen mit Vorerkrankungen über. Wie genau das in Berlin passiert ist, kann man sehr klar für den Herbst erkennen. Erst waren es die Jungen, die die Infektionen hatten, aber ab September nahm Woche für Woche der Anteil der Älteren an den gemeldeten Infektionen zu.
Dass genau das passieren würde, darauf hatte beispielsweise schon im Oktober die Forscherin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen hingewiesen. Sie ist eine der Befürworterinnen der “No Covid”-Strategie, die die Amtsärzte wohl fälschlicherweise mit der “Zero Covid”-Initiative vertauschen und kritisieren, wenn sie von “theoretischen Modellieransätzen” sprechen. Doch der Unterschied ist erheblich. Während die “Zero-Covid”-Intiative eine weitgehende Umstrukturierung der Gesellschaft fordert, handelt es sich bei “No Covid” um eine Strategie, die auf vorhandene Ansätze aufbaut. Umso ratloser hinterlässt darum Experten auch die Kritik der Amtsärzte.
Die Amtsärzte schreiben: “Solch ein rein theoretischer Modellieransatz wird den Lebenswirklichkeiten nicht gerecht. Viel mehr sind die Maßnahmen und Instrumente aus Public Health und Epidemiologie anzuwenden.” Tatsächlich basiert die “No Covid”-Strategie aber eben auf epidemiologischen Überlegungen und Ansätzen von Public Health.
Kurz gesagt, ist die Idee hinter “No Covid”, Fallzahlen zunächst mit scharfen Maßnahmen so weit zu drücken, dass wieder mehr Normalität möglich wird. Und dann diesen Zustand zu verteidigen. Die Werkzeuge dafür sind zum einen rigide Kontrollen beim Einreisen aus Hochinzidenz-Gebieten. Zum anderen eine Stärkung der Gesundheitsämter, damit diese besser in der Lage sind, Infektionsketten nachzuverfolgen. Also Maßnahmen, die ganz klassisch zum Bereich von Public Health gehören. Auch der Vorwurf, dass eine solche Strategie nicht den Lebenswirklichkeiten gerecht werde, verwundert. Länder wie Australien, Neuseeland oder auch Taiwan und Norwegen zeigen, dass es durchaus möglich ist, das Virus weitgehend in Schach zu halten.
Zu frühes Öffnen könnte die Impfstoffe wirkungslos machen
Hinzu kommt außerdem noch ein weiteres Argument dafür, in allen Altersgruppen die Fallzahlen niedrig zu halten: die Impfung. Denn auch hier haben die Amtsärzte nur auf den ersten Blick recht, wenn sie dafür plädieren, höhere Inzidenzen zu akzepieren sobald “die über 80-Jährigen schon durchgeimpft wären”, weil dann ja die gefährdetsten Menschen geschützt seien. Genau das könnte die neuen Impfstoffe schnell nutzlos machen.
“Es ist schon jetzt ein Wettlauf zwischen dem Virus und uns, wie schnell es mutiert und wie schnell wir mit den aktuellen Impfstoffen Menschen schützen beziehungsweise wie schnell wir auch neue angepasste Varianten an Impfstoffen entwickeln können”, sagt der Epidemiologe Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien. Würde man aber – sobald die ältesten Menschen durchgeimpft sind – einfach dem Virus freien Lauf lassen, bekäme es bei hunderttausenden von Infektionen die Chance, dass sich noch resistentere Varianten durchsetzen. Auch vor diesem Hintergrund sind die Vorschläge der Amtsärzte zu kurz gegriffen.
Kontrolle? Welche Kontrolle?
Was bleibt vom Schreiben der Amtsärzte also? Zunächst eine Menge Verwirrung. Sei es, weil es subtil die Vorschläge aus der Forschung als realitätsfern abstempelt, während umgekehrt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder die zentrale Rolle von Gesundheitsämtern hevorheben.
Oder sei es, weil das Schreiben schon mit einem bemerkenswerten Satz beginnt: “Die Berliner GÄ (Anm. d. Red. Gesundheitsämter) waren insbesondere durch ihre dezentrale Aufstellung zu jeder Zeit Herr der Lage.” Dass das der Fall war, fällt jedem schwer zu glauben, der die letzten zwölf Monate in der Hauptstadt erlebt hat.
Am Ende sollte man vielleicht das Schreiben darum als textgewordene Verzweiflung verstehen. Ein Schreiben, in dem sich vielfältige Fehlschlüsse finden, aber auch einige berechtigte Rufe nach mehr Hilfe. Nämlich das Fordern nach mehr Personal und das schnellere Durchführen der aktuellen Impfkampagne.