Was wir zu den verschiedenen Mutationen wissen und was nicht
Mehrere Fälle der “britischen” Sars-CoV-2-Variante B.1.1.7 wurden inzwischen in Berlin gefunden. Aber wieso sind Politik und Wissenschaft über diese und andere Mutationen derart besorgt? Vorläufige Antworten auf die wichtigsten Fragen. Von Haluka Maier-Borst
Was macht diese Varianten so besonders?
Derzeit konzentiert sich die Diskussion auf drei mutierte Varianten des Coronavirus. Sie werden umgangssprachlich benannt nach den Ländern, wo sie zuerst entdeckt wurden. Es sind die sogenannte britische, südafrikanische und brasilianische Variante.
Am meisten weiß man für den Moment über die britische Variante B.1.1.7. Sie scheint sich deutlich schneller auszubreiten als bisherige Varianten des Coronavirus. Erste Studien deuteten darauf hin, dass die sogenannte britische Variante etwa 50 bis 70 Prozent ansteckender ist als andere Varianten. Zu diesem Ergebnis kommt zum einen ein Team der London School of Hygiene and Tropical Medicine [medrxiv.org] und zum anderen ein Team mit unter anderem Forschern und Forscherinnen vom Imperial College London [medrxiv.org]. Eine weitere Studie von Forschern der Universität Oxford taxiert das Mehr aber inzwischen deutlich niedriger, bei ungefähr bei 20 bis 55 Prozent [medrxiv.org].
Der epidemiologische Modellierer Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien hält die letztere Studie für solider, weil sie gewisse Verzerrungen vermeidet. “Aber auch wenn wir jetzt bei einer erhöhten Übertragbarkeit von ‘nur’ rund 35 Prozent mehr reden, ist das kein Grund zur Entwarnung”, sagt er.
In einer dieser Studien [medrxiv.org] zeigte sich zwar, dass die neue Variante ein wenig häufiger bei jüngeren Infizierten auftaucht. Dennoch gehen die Autoren der Studie und auch weitere Untersuchungen erstmal nicht davon aus, dass jüngere Menschen sich leichter mit der Variante anstecken und das allein der Grund dafür ist, dass die Ausbreitung schneller verläuft [medrxiv.org].
Auch gibt es noch Zweifel darüber, ob die britische Variante tödlicher ist oder zu mehr schweren Verläufen führt. Während einer Pressekonferenz sprach der britische Premierminister Boris Johnson davon, dass die britische Variante möglicherweise bis zu 30 Prozent tödlicher ist [guardian.co.uk]. Anstatt dass 10 von 1.000 Infizierten stürben, würde es zu 13 bis 14 Todesfällen pro 1.000 in der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen kommen. Bisherige Studien hatten das aber eher verneint.
Ähnlich sieht es auch wohl mit der südafrikanischen Variante 501Y.V2 aus, die ebenfalls ansteckender zu sein scheint [bbc.co.uk], wahrscheinlich aber nicht notwendigerweise tödlicher. Sie zeigt zudem recht ähnliche Mutationen.
Über die brasilianische P1 hingegen ist am wenigsten bekannt. Was sie aber besonders macht, ist, dass sie in Manaus festgestellt wurde. Einem Ort, der schon die Herdenimmunität erreicht haben sollte, weil sich laut einer Studie offenbar bereits 75 Prozent der Bevölkerung angesteckt haben [sciencemag.com]. Eigentlich sollten damit kaum noch Neuinfektionen registriert werden. Tatsächlich steigen die Fallzahlen dort jedoch wieder rapide.
Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Variante so anders ist, dass bereits Infizierte sich wieder anstecken können. Es könnte aber auch sein, dass einfach grundsätzlich die Immunität in der Bevölkerung nach über einem halben Jahr anfängt zu schwinden. Oder die erwähnte Studie hat die Quote der Immunen überschätzt. Die Schätzung der Herdenimmunität basiert nämlich auf Blutspendern, die einen kostenlosen Test auf Covid-19-Antikörper erhielten. Das könnte vor allem jene angelockt haben, die vermuteten, infiziert gewesen zu sein [spektrum.de].
Wieso ist die schnellere Ausbreitung ein Problem?
Nicht tödlicher, kein höherer Anteil an schweren Verläufen – für den Einzelnen ist das Virus erstmal nicht zwangsläufig gefährlicher. Aber in der Gesamtperspektive ist die schnellere Ausbreitung sehr wohl ein Problem, denn es bedeutet, dass mehr Menschen gleichzeitig erkranken und damit auch mehr schwere Verläufe durchleben, mehr sterben.
Führt das Mehr an schweren Verläufen zudem dazu, dass schneller die Kapazitäten von Intensivstationen erschöpft sind, kann das Gesundheitssystem überlastet sein. Die Folge: Es fehlen Betten für Menschen, die sonst auf der Intensivstation mit entsprechender Behandlung noch eine Chance gehabt hätten zu überleben.
Der Epidemiologe Adam Kucharski hat das Ganze grob auf Twitter vorgerechnet [twitter.com], allerdings damals noch für den Fall einer fünfzig Prozent höheren Übertragbarkeit.
Wenn mit jeder Generationszeit sich fünfzig Prozent mehr Leute anstecken als bei den bisherigen Sars-CoV-2-Varianten, so sind nach zwei Generationen schon mehr als doppelt so viele Menschen angesteckt. Nach fünf Generationen (ungefähr einem Monat) wären das siebeneinhalb Mal so viele Infizierte wie bei den anderen Varianten. Selbst wenn also die Sterblichkeit bei demselben Wert bleibt: Wenn sich insgesamt siebeneinhalb Mal mehr Menschen anstecken, so sterben auch siebeneinhalb Mal mehr Menschen.
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Was lässt sich dagegen tun?
Um die Ausbreitung zu stoppen, muss die Zahl der täglichen Neuinfektionen noch schneller runtergefahren werden als mit den bisherigen Varianten. So geht das SSI, das dänische Pendant zum Robert-Koch-Institut davon aus, dass man im schlimmsten Fall die Reproduktionszahl für das bisherige Virus unterhalb von 0,7 senken muss, um einen exponentiellen Anstieg zu vermeiden [ssi.dk]. Dies würde nämlich ungefähr einem Reproduktionswert von 1,05 für den britischen Typ entsprechen.
Zur Erinnerung: Ein Reproduktionswert oberhalb von 1 bedeutet eine exponentiell steigende Anzahl von Infektionen. Unterhalb von 1, dass die Zahl der Neuinfektionen sinkt.
Um die neuen Virusvarianten besser einzudämmen, muss man also den Reproduktionswert zu senken. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: schlicht weniger Begegnungen stattfinden lassen oder die Begegnungen, die stattfinden, sicherer machen.
Peter Klimek von der Medizinischen Universität Wien sagt: “Ich glaube, was die Reduzierungen der Kontakte angeht, haben wir schon viel gemacht und alles andere wird zunehmend drakonisch und schwer durchsetzbar. Aber indem wir mit besseren Masken und mit bald verfügbaren Tests für zu Hause die einzelnen Treffen sicherer machen, könnten wir noch viel gewinnen.”
Die Virologin Isabella Eckerle von der Universität Genf und andere weisen zudem darauf hin, dass nach einem schnellen Senken der Inzidenzen auf ein niedriges Niveau auch die Möglichkeit von besserer Nachverfolgung mithilfe der Gesundheitsämter wieder möglich würde [twitter.com]. Sprich: Niedrige Zahlen niedrig zu halten ist einfacher, als hohe Zahlen nicht weiter steigen zu lassen.
Eckerle und Klimek gehören darum zu einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern, die dazu aufruft, eine europaweite Strategie zu fahren. Das Ziel sollte ihnen zufolge eher eine Inzidenz von 10 Infektionen in der Woche pro 100.000 Einwohnern sein, und dies über Grenzen hinweg. “Wenn wir niedrigere Inzidenzzahlen haben, greifen Maßnahmen wie die Kontaktnachverfolgung besser und wenn benachbarten Länder mitmachen, dann stabilisieren sie sich gegenseitig”, sagt Klimek. Ein Land mit hohen Fallzahlen hingegen würde zwangsläufig nach und nach die Situation in seinen Nachbarländern erschweren.
Sind die Impfstoffe gegen die neue Variante wirkungslos?
Erste Analysen von Biontech legen nahe, dass der Impfstoff der Mainzer Firma auch wirksam gegen B.1.1.7. ist [medrxiv.org]. Dennoch betonen die Autoren der noch nicht begutachteten Studie, dass weitere Mutationen beobachtet werden müssen und inwiefern sie den Impfstoff wirkungslos machen. Für andere Impfstoffe und die anderen Mutationen stehen solche Untersuchungen noch aus. Es bleibt aber die Hoffnung, dass eine durch einen Impfstoff ausgelöste Immunantwort deutlich breiter ist.
Ferner bieten speziell die mRNA-Impfstoffe theoretisch die Möglichkeit, dass man sie sehr schnell auf neue Varianten anpassen kann, wie Leif Erik Sander von der Charité im Vidcast von rbb|24 erklärte.
Sind Menschen, die schon Corona hatten, gegen diese Variante immun?
Das bleibt die große Frage. Zum einen ist grundsätzlich die Frage, wie lange die Immunantwort von Menschen anhält, die sich schonmal infiziert haben. Erste Daten zeigen, dass in der Mehrheit der Infizierten die Immunantwort über ein halbes Jahr anhält [sciencemag.com]. Aber es gibt Fälle von Reinfektion.
Zum anderen kann eine Mutation das Virus so weit verändern, dass ein Immunsystem, das schon eine Infektion hinter sich hat, es nicht mehr erkennt. In dieser Hinsicht gibt es in der Tendenz eine eher pessimistisch stimmende Studie [biorxiv.org]. Die Forscher gewannen dafür Antikörper aus dem Blut von Menschen, die eine Infektion hinter sich hatten und probierten aus, wie gut diese Antikörper noch reagieren, wenn das Virus mutiert. Das Beunruhigende: gewisse Veränderungen im Corona-Virus, die zum Beispiel auch in Brasilien und Südafrika schon beachtet wurden, führten dazu, dass die Reaktion der Antikörper nur ein Zehntel dessen war, was bei “normaleren” Virus-Varianten der Fall war.
Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité weist in einem Interview gegenüber dem Spiegel aber auch darauf hin, dass eben nicht nur die Antikörper zur Immunantwort gehören [spiegel.de]. Es könnte also sein, dass ein durch eine Infektion oder durch eine Impfung trainiertes Immunsystem anderweitig auch mit mutierten Varianten fertig wird. Gleichzeitig zeigte sich Drosten darüber besorgt, dass neue mutierte Varianten wohl eine größere Gefahr als bisherige Varianten des Virus darstellen.