STRATEGIEN GEGEN COVID-19 AUF DEM PRÜFSTAND

 

Das Ausmaß der Pandemiefolgen lässt sich noch nicht genau abschätzen. Sicher ist, der Handel leidet besonders stark. Wie wichtig eine ganzheitliche Betrachtungsweise im Kampf gegen das Virus ist und wie sich das nationale Krisenmanagement schlägt, zeigt der internationale Vergleich.

 

Im Mai kehrte das öffentliche Leben in Österreich vorerst weitgehend zur Normalität zurück – wenn auch mit Auflagen: Grundvoraussetzung für die Teilnahme am öffentlichen Leben ist der Nachweis über eine geringe epidemiologische Gefahr”, heißt es in einer Erklärung des Gesundheitsministeriums zu den Lockerungsschritten ab 19. Mai. Zentral ist dabei die 3-G-Regel”, die es geimpften, genesenen und getesteten Personen unter anderem ermöglichen soll, die Gastronomie und Kulturveranstaltungen zu besuchen und wieder Hotelzimmer buchen zu können. Die viel belastete Kennzahl der 7-Tage-Inzidenz zeigt sich rückläufig und es zeichnet sich eine gewisse Entspannung ab. Für viele Handelsunternehmen bleibt die Situation hingegen kritisch. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben bereits tiefe Spuren hinterlassen, und die heimischen Händler sehen sich langfristig mit Problemen konfrontiert, für die bisher keine überzeugenden Lösungen umgesetzt wurden. Grund genug, Österreichs Strategie im Kampf gegen die Pandemie einer Prüfung zu unterziehen und mit anderen Beispielen und Ansätzen aus der ganzen Welt zu vergleichen.

 

DER ÖSTERREICHISCHE WEG

 

In Österreich wurde vor allem mittels Lockdowns versucht, das Gesundheitssystem zu entlasten. Massive Einschränkungen des öffentlichen Lebensinklusive der zwangsweisen Schließung weiter Teile des Handels über längere Zeiträume sollten für sinkende Infektionszahlen sorgen. Gleichzeitig wurden vergleichbare Maßnahmen wie Homeoffice lediglich empfohlen. Je nach Entwicklung der gesundheitlichen Kennzahlen wie der 7-Tage-Inzidenz oder der Belegung von Intensivstationen wurden die Auflagen gelockert, verschärft oder verlängert. Für jene Teile des Handels, die von den Schließungen nicht ausgenommen wurden, stellte diese Strategie eine besondere Belastung dar.

 

Das Marktforschungsunternehmen BRANCHENRADAR.com untersucht in Zusammenarbeit mit dem Handelsverband jährlich die Entwicklungen der Haushaltsausgaben in Österreich – ein für unterschiedliche Branchen wichtiger Indikator für die Geschäftsentwicklung. Die entsprechende Studie Handel in Zahlen” weist für das vergangene Jahr massive Verwerfungen aus: Vor Ausbruch der Corona-Krise hatte man für das Jahr 2020 mit einem Wachstum der Haushaltsausgaben von fünf Milliarden Euro gerechnet. Tatsächlich sind die Ausgaben im Vorjahr dann um 14 Milliarden geschrumpft. Im laufenden Jahr zeichnet sich ein weiterer Rückgang um 20 Milliarden Euro ab”, rechnet der Studienleiter Andreas Kreutzer. Insgesamt würden die Haushaltsausgaben in den Jahren 2020 und 2021 damit bereits um 39 Milliarden Euro niedriger ausfallen, als dies ohne die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung der Fall gewesen wäre: Ich rechne damit, dass wir erst im Jahr 2024 wieder das Niveau von 2019 erreichen”, so Kreutzer. Wie einzelne Segmente der Branche durch das erste Krisenjahr gekommen sind, erfahren Sie im Detail auf den Seiten 26-27.

 

Gesamtwirtschaftlich fällt Kreutzers Fazit kritisch aus: Das Bruttoinlandsprodukt ist zuletzt wesentlich stärker gefallen als zunächst erwartet. Das wird gerne auf das Ausbleiben der Touristen zurückgeführt. Sieht man sich aber den BIP-Beitrag des Handels im Verhältnis dazu an, zeigt sich hier eine viel größere Bedeutung. Da ist es immer fatal, wenn man den Konsum abdreht, also alles, was mit Einkaufen und Freizeit zu tun hat”, sagt Andreas Kreutzer.

 

DAS SAGT DIE WISSENSCHAFT

 

Neben der Politik ist in der Pandemie die Wissenschaft besonders gefragt, die belastbare Grundlagen für gute Entscheidungen liefern soll. In Österreich hat unter anderem der Complexity Science Hub Vienna (CSH) die unterschiedlichsten Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 erforscht. Vor der weltweiten Gesundheitskrise beschäftigte sich die Institution mit anderen Herausforderungen einer zunehmend vernetzten Welt, etwa mit Finanzmärkten, globalisierter Wirtschaft und Innovation. In der Gesundheitskrise untersuchte der CSH gemeinsam mit Wissenschaftsinstitutionen weltweit, wie gut konkrete Schritte im Kampf gegen das Coronavirus wirken. Dazu wurden unzählige Maßnahmen und Daten aus allen Regionen der Welt ausgewertet: Die wirksamsten Maßnahmen sind nach wie vor diejenigen, die direkt auf die Reduktion von sozialen Kontakten in Settings abzielen, in denen enge Kontakte in geschlossenen Räumen über einen längeren Zeitraum hinweg stattfinden können”, sagt Peter Klimek vom CSH Vienna. Dazu würde eben auch die Schließung von Gastronomie, Hotellerie und körpernahen Dienstleistungen sowie von Ausbildungsstätten zählen, auf die in Österreich gesetzt wurde. Weiters hätten sich Mobilitäts- und Bewegungseinschränkungen wie Ausreisetests, Grenzschließungen und Ausgangssperren sowie die Beschränkung von Zusammentreffen auf Personen aus lediglich zwei Haushalten ebenfalls als effektiv erwiesen. Für die erwähnten Maßnahmen gilt, dass wir hier nur von der Effektivität in Bezug auf die Eindämmung der Virusausbreitung sprechen. Dem müssen natürlich immer die Folgeschäden einer Maßnahme gegenübergestellt werden”, stellt Klimek klar.

 

Und im März 2021 veröffentlichte der französische Conseil scientifique – das wissenschaftliche Gremium, das die französische Regierung bei den Maßnahmen berät – eine Studie, wonach Einzelhandelsgeschäfte eindeutig nicht mit einem erhöhten Infektionsrisiko verbunden sind. Selbiges gilt auch für öffentliche Verkehrsmittel, Vorträge in Hörsälen, Sport im Freien oder Friseursalons.

 

KRITIK AM HEIMISCHEN VORGEHEN

 

Eine zentrale Erkenntnis der Komplexitätsforschung ist bei der Pandemiebekämpfung, dass die Kontrolle der Virusausbreitung bei niedrigeren Fallzahlen wesentlich leichter fällt als bei hohen. Denn die Kontaktverfolgung zur Isolierung von Infektionsherden funktioniert bei niedrigeren Fallzahlen effektiver und Mobilitäts- oder Kontaktreduktion können deutlich kleinräumiger, kürzer und zielgenauer angewendet werden: In Österreich wurde hingegen Kontrolle bei hohen Fallzahlen versucht, indem man erst mit beherzteren Maßnahmen eingreift, wenn die Infektionszahlen so hoch werden, dass eine Überlastung der Intensivstationen de facto eintritt”, erklärt Klimek.

 

Österreich war damit jedoch nicht allein. Eine ähnliche Strategie verfolgten auch viele andere Länder in Europa und Amerika: Die Hoffnung bestand oftmals darin, sich bis zur Impfung durchwursteln zu können. Eine solche Hochinzidenzstrategie ist allerdings riskant und oftmals mit einem höheren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schaden verbunden als kontrollierte Niedriginzidenzstrategien, wie sie etwa die meisten asiatischen Länder verfolgen”, meint Klimek.

 

INTERNATIONALEVORBILDER

 

Darüber hinaus belege die Literatur, dass Länder mit einer hohen Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung sowie einem hohen Ausmaß von zwischenmenschlichem Vertrauen wesentlich besser durch die Pandemie kamen. Als europäische Beispiele werden dafür Finnland, Norwegen oder Dänemark genannt: Diese Länder konnten die Pandemie lange Zeit mit ,softeren’ Maßnahmen bei wesentlich niedrigeren Fallzahlen kontrollieren als viele mitteleuropäische Länder und dürfen damit auch geringere gesundheitliche und wirtschaftliche Folgeschäden erwarten”, sagt Klimek. Die wirtschaftlichen und psychosozialen Langzeitfolgen unterschiedlicher Strategien der Pandemiebekämpfung werden wir erst in den nächsten Jahren vollständig fassen können. Aus jetziger Sicht kann festgestellt werden, dass Europa bislang leider keine koordinierte Strategie verfolgt hat. Sobald ein Land die Kontrolle verloren hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Infektionswellen oder Mutanten in ein anderes Land überschwappten”, fasst der Wiener Komplexitätsforscher zusammen. Ähnliches gelte im Übrigen für Nord- und Südamerika.

 

Bei der Frage, welche Länder hingegen auffällig gut durch die Pandemie gekommen sind, erhielt eine Untersuchung aus Frankreich, die im April dieses Jahres erschienen ist, erhöhte Aufmerksamkeit. Das Institut economique Molinari hat sich nicht nur die Entwicklung der gesundheitlichen Größen näher angesehen, sondern bezieht in seine Bewertung ökonomische Folgen der Krisenpolitik ein.

 

Berücksichtigt wurden neben Fallzahlen und Todesfällen in Zusammenhang mit Covid-19 die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Der Vergleich umfasste neben den Industriestaaten der G10 (USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande, Schweiz, Schweden und Japan) noch Südkorea, Neuseeland und Australien.

Bei der Strategie unterschied das französische Team um Cecile Philippe und Nicolas Marques zwischen zwei Grundprinzipien: Während die meisten Regierungen versuchten, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren, zielten die Maßnahmen der zweiten Gruppe darauf, die Ausbreitung gänzlich zu eliminieren.

 

Den Studienautoren zufolge fiel der Wirtschaftseinbruch in Ländern mit der zweiten Strategie, auch Zero Covid genannt, spürbar geringer aus. Als Musterbeispiele dafür werden Australien, Neuseeland und Südkorea angeführt: Zum einen erlitten sie, verglichen mit den Ländern, die dem Virus eine Ausbreitung bis zur Auslastung ihrer Gesundheitssysteme erlaubten, einen geringeren wirtschaftlichen Einbruch im zweiten Quartal 2020 (minus 4,5 Prozent gegenüber 11,7 Prozent)”, heißt es in der Studie. Außerdem zeige die Zero-Covid-Strategie langfristig positive Effekte auf das öffentlicheLeben: In den Zero-Covid-Ländern waren die Einschränkungen zur Begrenzung des Kontaminationsrisikos im zweiten Quartal weniger streng – egal ob von den Behörden oder von den Menschen selbst auferlegt. Im vierten Quartal 2020 waren diese Länder fast wieder zur normalen Wirtschaftstätigkeit zurückgekehrt”, fasst das Institut economique Molinari zusammen.

 

Auffällig ist darüber hinaus, dass es im Kampf gegen Covid-19 keinen Widerspruch zwischen dem Schutz der Wirtschaft und dem Schutz der Bevölkerungsgesundheit geben muss: Unter dem Strich waren jene Länder am erfolgreichsten, die ihre Maßnahmen sowohl an Gesundheitsaspekten als auch an einem aufrechten Wirtschaftsleben ausrichteten: Die Analyse von Daten zur Sterblichkeit, zum Wirtschaftswachstum und zur Mobilität zeigt, dass gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Interessen in Einklang stehen”, schlussfolgern die Studienautoren.

 

Sowohl die Erkenntnisse des Institut economique Molinari als auch jene des Complexity Science Hub Vienna (CSH) legen nahe, dass der Erfolg von Maßnahmen maßgeblich von der Entschlossenheit der Durchsetzung und ihrem Timing abhängen.

GESUNDHEIT UND WIRTSCHAFTSLEBEN KEIN WIDERSPRUCH

 

Der Handelsverband hat bereits im Februar mit seinem Corona-Masterplan ein Modell für ein Leben und Wirtschaften mit dem Virus vorgelegt. Die drei darin enthaltenen Schwerpunkte Arbeitsplätze retten”, Insolvenzen verhindern”, Digitalisierung vorantreiben und digitales Fair Play schaffen” zielen auf eine langfristige und ausgewogene Strategie, mit den Herausforderungen der Pandemie richtig umzugehen.

 

Die sich aktuell andeutende Entspannung des Infektionsgeschehens und die positiven Effekte des Impffortschritts könnten für Spielraum sorgen, die nationale Strategie gegen Covid-19 zu optimieren. Der weltweite Vergleich der bisherigen Maßnahmen liefert dafür wertvolle Erkenntnisse, und die jüngsten Zahlen aus der Branche unterstreichen den dringenden Bedarf an entschlossenen Lösungswegen für die drängenden Probleme, mit denen der heimische Handel zu kämpfen hat.