„Spiel lief nicht fair ab“: Forscher halten Manipulation bei Türkei-Wahl für möglich

Hat es bei der Türkei-Wahl einen Wahlbetrug gegeben? Eine neue Studie aus Wien schließt eine Manipulation durch das Erdogan-Lager nicht aus.

Wien – Schon in der ersten Runde der Türkei-Wahl am 14. Mai 2014 hatte sich die Opposition darüber beschwert, dass die Hochrechnungen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi nicht stimmen können. „Die Agentur Anadolu manipuliert die Wahlergebnisse wie üblich zugunsten von Erdoğan und der AKP!“, schrieb der Abgeordnete Mahmut Tanal (CHP). Der Oppositionspolitiker fordert die Wahlbeobachter der Opposition auf, die Stimmzettel weiterhin im Auge zu behalten.

Rätselraten um Erdogan-Sieg: Studie enthüllt Hinweise auf Manipulation bei Türkei-Wahl

Manipulation bei der Türkei-Wahl? Aus dem Verdacht wird nun Gewissheit: Denn eine forensische Analyse des Complexity Science Hub in Wien hat jetzt ebenfalls auf einen möglichen Wahlbetrug in der ersten Runde der Parlaments- und Präsidentschaftswahl hingewiesen. Die Wissenschaftler, die auch schon bei der Wahl 2018 im Einsatz waren und Unregelmäßigkeiten nachweisen konnten, stellten in ihrer aktuellen Untersuchung fest, dass 2,4 Prozent der Wahleinheiten von Wahlfälschungen zugunsten Erdogans betroffen gewesen sein könnten.

Die Forscher fanden kleine, aber statistisch signifikante Hinweise auf eine mögliche Wählermanipulationen. „Vor allem in Gebieten mit wenigen und kleineren Wahllokalen waren die Zahlen für die Stimmabgabe und die Wahlbeteiligung deutlich überhöht, wiederum zugunsten von Erdogan“, heißt es in einer Mitteilung des Complexity Science Hub. So überstieg die Zahl der kumulierten Stimmen die 50-Prozent-Marke für Erdogan, wenn die Wahlbeteiligung bei einem für gewöhnlich überdurchschnittlichen Wert von 90 Prozent lag.

„Wir haben ähnliche Untersuchungen auch über die Wahlen in Russland, Venezuela und Uganda durchgeführt“, sagt der Physiker Peter Klimek, Forscher am Complexity Science Hub und an der Medizinischen Universität Wien. Klimek ist zudem einer der Autoren der Studie. Auch in diesen Ländern hatte es Manipulationen gegeben. Binnen Minuten können die Forscher mit ihren Tools sogenannte „Verzerrungen“ herausfinden. Für die zweite Runde der Türkei-Wahl am 28. Mai wurde allerdings bislang noch keine Untersuchung durchgeführt.

Unfaire Bedingungen bei Türkei-Wahl

Wahlbeobachter verwundert es nicht, dass Recep Tayyip Erdogan erneut zum Präsidenten gewählt wurde und auch seine AKP die Mehrheit im Parlament erringen konnte. So vergleicht der Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Prof. Savas Genc die Türkei-Wahl mit einem Fußballspiel. „Das Spiel lief nicht fair ab: Der Fußballverband, die Schiedsrichter, die Medien und auch die Fans sind auf der Seite der einen Mannschaft. Unter diesen Bedingungen fanden die Wahlen statt,“ sagt Genc im Gespräch mit fr.de von IPPEN.MEDIA. Eine Manipulation für den Sieg wäre also erst gar nicht nötig gewesen.

Konnten früher auch andere Medien die Zahlen der Wahlaufsichtsbehörde YSK veröffentlichen, war das diesmal nur der staatlichen Anadolu Ajansi erlaubt. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass Erdogan nach 2019 die Leitung des YSK durch ihm loyale Kader ausgetauscht hat. An die Spitze des YSK ließ er Ahmet Yener setzen, mit dessen Familie Erdogan eng verbandelt ist.

Erdogan hält auch nach Türkei-Wahl Justiz, Sicherheitsapparat und Medien fest im Griff

Doch die neuen Erkenntnisse über Manipulationen und unfaire Bedingungen bei der Türkei-Wahl werden offensichtlich nichts an der Herrschaft von Erdogan ändern. Denn auch die Justiz und den Sicherheitsapparat hat der „Reis“ fest im Griff. Im sogenannten Rechtsstaatlichkeitsindex der Nichtregierungsorganisation „World Justice Project“ kommt die Türkei auf Platz 114 unter 140 Staaten. Auch eine negative Presse hat Erdogan kaum zu fürchten. Der größte Teil der privaten Medien gehört Oligarchen aus seinem Umfeld. Die staatlichen Medien kontrolliert er ohnehin. Auch in den Gefängnissen hält Erdogan weiterhin Dutzende Journalisten gefangen. Im Pressefreiheitsindex von „Reporter ohne Grenzen“ liegt die Türkei auf Platz 165 und 180 Staaten.