Zu viele Publikationen, zu wenige Stellen: Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sind schwierig. Gibt es Alternativen?
Man sitzt auf dem Sessel, die Beine auf dem Tisch, die Arme hinter dem Nacken verschränkt. Eine “Powerpose” ist ganz einfach -und sehr nützlich: Wer sie eine Minute lang einnimmt, ist danach risikobereiter und fühlt sich mächtiger. Auch die Testosteronwerte sind erhöht. Das zeigte eine Studie, die 2010 im renommierten Fachjournal Psychological Science erschien.
Die Körpersprache verändert also das Verhalten. Die amerikanische Sozialpsychologin Amy Cuddy, die damals an der Harvard-Universität dieses Experiment durchgeführt hatte, wusste die Ergebnisse zu vermarkten. Ihr Ratgeber (“Dein Körper spricht für dich”) wurde ein Bestseller, ihr Ted-Talk über 67 Millionen Mal angesehen. Und auch die österreichische Psychologiestudentin Hannah Metzler interessierte sich dafür.
An der Universität Wien hatte die heute 36-Jährige ihr Magisterstudium absolviert. 2014 begann sie ihr Doktoratsstudium an der Pariser École Normale Supérieure. Sie wurde Teil eines Teams, das sich diesem völlig neuen Forschungsgebiet widmete. Metzler untersuchte, welchen Einfluss die “Powerposen” auf die Gesichtswahrnehmung hatten. Vermied man eher Menschen mit wütenden Gesichtern, wenn man sich selbst nicht dominant fühlte?
Während Metzler ihre Experimente durchführte, bei denen Menschen “Powerposen” einnahmen und danach die Emotionen in den Gesichtern anderer bestimmten, begannen Forscher anderswo, die ursprünglichen Experimente zu wiederholen. Und entdeckten: Cuddys Ergebnisse hielten Überprüfungen nicht stand. Ihre Stichprobe war mit gerade einmal 42 Probanden zu klein, den erhöhten Testosteronspiegel fand sonst niemand.
“Wir standen vor einem Chaos von Ergebnissen”, sagt Metzler. Ist ein Forschungsgebiet noch nicht so etabliert, tastet man sich mit verschiedenen Fragestellungen heran. Wie stark müssen die Gesichtsausdrücke sein? Gibt es einen Geschlechtsunterschied? Interpretiert werden die Ergebnisse dann mithilfe des vorhandenen Wissens. Als sich diese Grundlage, auf der Metzler ihre Hypothesen aufgebaut hatte, als falsch entpuppte, war mit den Ergebnissen nichts mehr anzufangen. Zwei Jahre Arbeit umsonst. “Meine Doktorarbeit ist in sich zusammengefallen.”
Hannah Metzler hatte nicht einfach nur Pech. Sie wurde Opfer einer Schwäche im Wissenschaftssystem, die zugleich dessen Stärke ist: Wer forscht, soll die Ergebnisse teilen, damit andere Arbeiten darauf aufbauen können. Zu Artikeln zusammengefasst, erscheinen sie in Fachjournalen, die sich ab dem 19. Jahrhundert etablierten. Vor der Veröffentlichung werden die Inhalte von anderen Experten kritisch begutachtet, die sogenannte Peer-Review.
Dieses System lenkt nach wie vor den Wissenschaftsbetrieb. Die Publikationsliste ist ein wichtiger Teil des Lebenslaufs jedes Forschenden, sie bestimmt nicht zuletzt, wer eine der wenigen unbefristeten Stellen, ja vielleicht sogar eine Professur bekommt. Dementsprechend hoch ist der Druck auf Forschende, viel zu publizieren, und das in Zeitschriften mit einem möglichst hohen Impact Factor. Der ergibt sich daraus, wie oft Artikel von anderen Forschenden in einem gewissen Zeitraum zitiert werden. Je höher der Impact Factor, desto renommierter das Journal.
Die Zahl der abgeschlossenen Doktoratsstudien hat sich hierzulande in den vergangenen 40 Jahren verfünffacht. Es gibt also immer mehr Menschen, die forschen können und wollen und um wenige Plätze rittern. Und die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sind prekär. Vor anderthalb Jahren trat zudem eine Gesetzesnovelle zur sogenannten Kettenvertragsregelung in Kraft. Sie betrifft das Arbeitsrecht an österreichischen Universitäten und sollte die Lage eigentlich verbessern. Doch das tut sie nicht. Das “Netzwerk Unterbau Wissenschaft”, ein Zusammenschluss prekär beschäftigter Wissenschaftler in Österreich, organisiert deshalb im März mehrere Veranstaltungen. Sie fordern mehr unbefristete Stellen; die Beschäftigungspolitik schade der Wissenschaft.
Hannah Metzlers Erfahrung ist eine dramatische Verkettung, aber sie zeigt ein grundlegendes Problem auf: Das Publikationssystem auf der einen und die prekären Arbeitsbedingungen auf der anderen Seite führen zu einer Situation, die die Qualität von Forschung gefährdet. Warum?
“Wir sollen viel publizieren, und es soll toll klingen”, sagt Hannah Metzler. Und das ist ein Problem. Denn so gelangen Ergebnisse, die zwar überraschend, aber methodisch nicht verlässlich sind, in renommierte Zeitschriften. Wie etwa die “Powerpose”-Studie. Das war kein Einzelfall.
In den vergangenen zehn Jahren sprach man in der Psychologie sogar von einer “Replikationskrise”. Nur bei 36 bis 68 Prozent der Ergebnisse kam man zu dem gleichen Resultat, wenn man die Experimente wiederholte, fand eine Studie aus dem Jahr 2015 heraus. Schlampige Forschung, übertriebene Ergebnisse, und all das unter enormem Druck.
Metzler schloss ihre Doktorarbeit dennoch ab. Sie hatte sich neue Erkenntnisse erhofft, stattdessen konnte sie lediglich zeigen, dass die Powerposen keinen Einfluss auf den Testosteronspiegel hatten. Metzler schwor sich, es künftig anders zu machen – und das System zu hinterfragen.
Zurück in Österreich, am Grazer Know-Center, einem Forschungszentrum für vertrauenswürdige KI und Data-Science, arbeitete Metzler an einer Studie mit, deren
Ergebnisse kürzlich im Fachjournal Quantitative Science Studies veröffentlicht wurden. Sie verglich, welche Kriterien Hochschulen in sieben verschiedenen Ländern anwenden, wenn es um die Vergabe von begehrten Tenure-Track-Stellen, also Posten, die zu unbefristeten Anstellungen führen, oder Professuren geht. Auch Österreich war dabei -und stach heraus.
Nirgendwo sonst war die Publikationsliste so wichtig: In Österreich nannten 67 Prozent der sechs untersuchten Unis die Zahl der veröffentlichten Fachartikel als Kriterium. In Deutschland waren es nur 25 Prozent, in Großbritannien überhaupt nur vier Prozent.
Objektive Kriterien sind wichtig, wenn es um die Vergabe von Posten geht. Das bestreitet niemand, auch nicht in der österreichischen Wissenschaftswelt. Sie schützen vor Nepotismus und davor, dass einzelne Menschen subjektiv entscheiden. Ob ein Artikel veröffentlicht wird, bestimmen schließlich unabhängige Fachgutachter, die die Inhalte anonym -und unbezahlt – beurteilen. In den Leistungsvereinbarungen, in denen die öffentlichen Universitäten ihr Budget mit dem Bund aushandeln, ist die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen in Fachjournalen ebenfalls ein Indikator. Auch das ein transparentes Vergabekriterium.
Das ist also einerseits fair. Und andererseits kontraproduktiv. Denn es ist Teil eines brutalen Wettrennens. Knapp 80 Prozent jener, die an den österreichischen Unis forschen und lehren, haben befristete Arbeitsverträge. Gerade am Beginn einer Forschungslaufbahn ist es sinnvoll, an mehreren, kürzeren Projekten beteiligt zu sein, Universität oder sogar Land zu wechseln.
Auch Hannah Metzlers Stelle ist befristet, zwei Jahre hat sie noch. Sie ist vor kurzem in die Psychologie zurückgekehrt, erforscht am Complexity Science Hub der Universität Wien, welche Rolle Emotionen bei der Verbreitung von Falschinformationen in den sozialen Medien spielen.
Das Powerposen-Fiasko und die Replikationskrise haben auch ihre Arbeitsweise verändert: Mittlerweile ist es üblich, Studien zu präregistrieren, also ihre Vermutungen im Vorhinein öffentlich zu machen. Das soll schlampige Forschung verhindern. Im Wettbewerb um Stellen muss sich Hannah Metzler dennoch behaupten. Gegen diesen Druck gehen gerade Forschende im ganzen Land auf die Straße. Im Dezember gab es eine Demonstration, für den Donnerstag ist eine weitere in Wien geplant.
Um zu verstehen, was schiefläuft, muss man ins österreichische Arbeitsrecht eintauchen. Dieses verbietet prinzipiell Kettenverträge, also eine Aneinanderreihung befristeter Anstellungsverhältnisse beim selben Arbeitgeber. Mit der Hochschulautonomie 2002 hatten sich die öffentlichen Universitäten eine Ausnahme ausgehandelt, den UG-Paragrafen 109. Sechs Jahre -oder in Teilzeit acht Jahre – lang durfte man befristete Verträge für Projekte oder Lehre beim selben Arbeitgeber aneinanderreihen, dann musste ein Jahr Pause eingelegt werden, bevor man wieder bei null starten konnte.
Dieser Paragraf wurde mit Herbst 2021 reformiert: Die bisherigen befristeten Verträge, die eine Person an derselben Universität hatte, werden zusammengezählt, das Pausenjahr ist nicht mehr möglich. Nach acht Jahren muss die Universität entweder eine unbefristete Stelle anbieten -oder kann die Person gar nicht mehr beschäftigen. Das soll die Unis dazu bringen, mehr Wissenschaftler unbefristet anzustellen. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Das zeigt eine Erhebung, die das Vienna Center for Electoral Research der Universität Wien durchgeführt und Anfang März bei einer Pressekonferenz für das “Hochschulaktionsmonat” präsentiert hat. Rund 1100 Angehörige des sogenannten Mittelbaus der Universität Wien wurden befragt. Das sind wissenschaftliche Angestellte, die keine Professur haben, also Menschen wie Metzler. Fast alle, die an der Umfrage teilnahmen, waren befristet beschäftigt. Und gerade einmal sechs Prozent gaben an, Aussichten auf eine Festanstellung zu haben.
Bei der Pressekonferenz waren zwar ausschließlich Sozialwissenschaftler, der Name Anton Zeilinger fiel dennoch mehrfach. Hat der österreichische Physiknobelpreisträger doch in einem “ZiB 2”-Interview erzählt, die Freiheit während des Studiums und in der Forschung habe seinen Erfolg ermöglicht. Gibt es diese Freiheit, um kreativ zu denken, wenn man sich alle paar Jahre nach einer neuen Stelle umsehen muss, man bei Bewerbungen an der Anzahl der Publikationen gemessen wird? Im Jahr 2020 befragte der britische Wellcome Trust 4000 Forscher auf der ganzen Welt nach ihren Arbeitsbedingungen und ihrer Motivation. 75 Prozent gaben an, der Wettbewerbsdruck würde es für sie schwierig machen, kreativ zu denken.
In dieselbe Richtung deutet auch eine Studie, die zu Jahresbeginn im renommierten Journal Nature erschien: Sie ergab, dass der Anteil an disruptiver Forschung, also Ergebnissen, die mit dem bisherigen Wissen brechen -etwa die Entdeckung der DNA-Struktur -seit 1945 immer geringer wird. Für die drei US-amerikanischen Forscher gibt es eine plausible Erklärung: Das Wissen wird spezialisierter. “Sich auf engere Bereiche des Wissens zu verlassen, ist gut für die eigene Karriere, aber nicht für den wissenschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen”, so ihr Fazit.
Die aktuelle Gemengelage fördert aber genau das: Artikel in Fachpublikationen müssen möglichst spezialisiert sein. Und je mehr ein Forscher davon veröffentlicht, und zwar in möglichst renommierten Publikationen, desto besser die Chancen auf eine unbefristete Anstellung. Gibt es eine Alternative zu diesem Tunnelblick?
“Wir brauchen Ziele, aber das Problem ist, dass unsere Ziele keine guten sind”, sagt Toma Susi. Der gebürtige Finne ist assoziierter Professor am Institut für Physik der Universität Wien. Wenn er nicht gerade die atomare Struktur von Materialien erforscht, setzt er sich dafür ein, dass sich das System ändert. Coalition for Advancing Research Assessment (“Coara”) heißt die globale Initiative, die im Vorjahr gestartet wurde; sieben österreichische Institutionen, darunter die Forschungsförderungsgesellschaft FWF und die Uni Graz, haben unterschrieben. Sie versprechen, sich zu bemühen, bei Bewerbungen mehr qualitative Kriterien zu benutzen -also den Inhalt der Publikationsliste zu bewerten, und nicht ausschließlich deren Länge oder den Ruf der Zeitschriften. Begutachten sollen das unabhängige Experten. “Coara” möchte zudem Forschung über Forschung fördern. Also genau das, was Hannah Metzler tat.
Impact Factor Wissenschaftliche Journals werden anhand der Anzahl der Zitationen durch andere Forschende in einem gewissen Zeitraum gereiht
h-Index Je mehr aus Artikeln eines Wissenschaftlers zitiert wird, desto höher dessen h-Index. Initiativen wie “Coara” hinterfragen dessen Bedeutung
Peer-Review Fachexperten begutachten wissenschaftliche Artikel vor der Veröffentlichung in Journals. Dies geschieht anonym und unentgeltlich
Tenure Track Diese Stellen gehen nach einer befristeten Bewährung in eine unbefristete Stelle über
Wie entsteht Wissen? Wer forscht in Österreich? Anna Goldenberg berichtet jede Woche darüber
“Wir sollen viel publizieren, und es soll toll klingen”
HANNAH METZLER