“The Line”: Warum das “grüne” Megaprojekt in der arabischen Wüste falsch geplant ist

 

Über 170 Kilometer soll sich die saudi-arabische Retortenstadt “The Line” von den Bergen bis zum Roten Meer erstrecken. Wiener Komplexitätsforscher haben jetzt einen entscheidenden Konstruktionsfehler des grünen Vorzeigeprojekts gefunden

Es ist vielleicht das Megaprojekt der Moderne: Mit “The Line” soll in der Wüste Saudi-Arabiens die Stadt der Zukunft erfunden – und auch gleich gebaut werden. Ein Projekt, das nicht mit Superlativen geizt: 170 Kilometer lang und schnurgerade soll die Metropole werden, dabei rekordverdächtige 500 Meter hoch und schlanke 200 Meter breit. Zwischen den nach außen verspiegelten, geschlossenen Fassadenfronten, so stellen es sich die Macher des Projekts vor, beginnt die Welt von morgen.

Flugtaxis und KI-unterstützte “automatisierte” Dienstleistungen sollen das Leben der Bewohner in dem gigantischen Hochglanz-Riegel vereinfachen und für eine “nie dagewesene Effizienz der städtischen Funktionen” sorgen; der komplette Energiebedarf für die bis zu neun Millionen Einwohner soll zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden.

Auch das Mobilitätskonzept scheint direkt aus der Zukunft zu sein: In der schnurgeraden Wüstenstadt soll alles innerhalb von fünf Minuten zu Fuß erreichbar sein; für Autos und Straßen ist kein Platz. Stattdessen soll eine Hochgeschwindigkeitsbahn die Menschen auf der ganzen Länge der Stadt zusammenbringen. Für die 170 Kilometer von einem Ende zum anderen, so das Versprechen, werden Reisende nur 20 Minuten benötigen.

Technologischer Größenwahn oder grüne Vision?

Genau hier setzt die Kritik von österreichischen Forschern an. Denn Pendelnde, so schreiben die beiden Autoren von der Wiener Complexity Science Hub in ihrer Studie, werden gerade wegen der ungewöhnlichen Form der Stadt deutlich länger unterwegs sein als angegeben.

“Es gibt einen Grund, warum die Menschheit 50.000 Städte hat und alle mehr oder weniger rund sind”, erklärt Rafael Prieto-Curiel, einer der beiden Autoren, in einer Presseerklärung. Denn eine lineare Form sei die am wenigsten effiziente Form einer Stadt. Zufällig ausgewählte Personen werden demnach in “The Line” durchschnittlich 57 Kilometer voneinander entfernt wohnen. Im flächenmäßig 50-mal größeren Johannesburg seien es dagegen nur 33 Kilometer.

Wer nur zu Fuß unterwegs sein möchte, hat in der grünen Vorzeigestadt schlechte Karten: Veranschlagt man eine Gehdistanz von einem Kilometer, seien für jeden Einwohner oder jede Einwohnerin der Stadt nur 1,2 Prozent der übrigen Bevölkerung erreichbar, schreiben die Autoren.

Hochgeschwindigkeitszug wird deutlich mehr Zeit brauchen

Auch der angekündigte Hochgeschwindigkeitszug wird der Studie zufolge die Distanzen nicht zum Verschwinden bringen: Zwischen den Enden der Megastadt muss es den Berechnungen der Komplexitätsforscher zufolge für eine gute Erreichbarkeit mindestens 86 Bahnhöfe geben. Berücksichtigt man die Zwischenstopps, ist allerdings davon auszugehen, dass der Zug seinen Trumpf – die hohe Geschwindigkeit – nicht voll ausspielen kann. Mit der Folge, dass eine Fahrt durch die ganze Stadt statt 20 Minuten durchschnittlich eine Stunde dauern würde. Fast die Hälfte aller Einwohner und Einwohnerinnen müssten für das Pendeln sogar noch mehr Zeit aufwenden. Mehr jedenfalls als in vielen anderen Großstädten.

Nicht eingerechnet sind Störungen aller Art im Betriebsablauf: Die könnten aufgrund der linienförmigen Streckenführung auf einen Schlag weite Teile der Stadt lahmlegen.

Unter Mobilitätsgesichtspunkten weitaus günstiger – und klimaschonender – sei dagegen ein kreisförmiger Grundriss, so die Autoren: “The Circle” hätte bei derselben Grundfläche von 34 Quadratkilometern nur einen Durchmesser von 6,6 Kilometern. Dadurch würde sich die durchschnittliche Distanz zwischen zwei beliebigen Personen auf knapp drei Kilometer reduzieren. Für jeden Menschen in der Stadt wären fast ein Viertel der übrigen Bewohner und Bewohnerinnen in einer Gehdistanz von einem Kilometer erreichbar. Ein Hochgeschwindigkeitszug wäre dann: gar nicht mehr nötig.

Dessenungeachtet haben die Arbeiten an den Fundamenten im Oktober 2022 begonnen; auf Luftbildern sind fast auf der ganzen Länge Baustellen zu erkennen. Äußerst unwahrscheinlich, dass der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman sein Lieblingsprojekt noch zum Kreis umformen lässt.