Wie Medikamente durch die Welt reisen
Viele Medikamente, die uns verschrieben werden, haben extrem lange Lieferketten. Gibt es Probleme an einer der Produktionsstätten, spüren das Patienten auf der ganzen Welt. Wie Abhilfe geschaffen werden könnte.
Antibiotika, Schmerzmittel, Kinderfiebersäfte, Blutdrucksenker – viele Medikamente wurden in den letzten Monaten knapp, und das verursacht bei den Patientinnen und Patienten neben der eigentlichen Erkrankung noch zusätzlichen Stress. Für 2022 verzeichnet die Gesundheitsagentur AGES 1.257 Meldungen zu Arzneispezialitäten, die nicht bzw. nicht ausreichend verfügbar waren. Oft liegt das daran, dass die Lieferketten für solche Medikamente um die halbe Welt reichen.
Der deutsche Verband der Generika- und Biosimilarunternehmen Pro Generika (Link zur Homepage) zeichnet auf seiner Website grafisch die Reise eines Blutdrucksenkers nach (siehe Video unten) . Rohstoffe dafür kommen aus China, weitere Wirkstoffe und die Verpackungen werden an unterschiedlichen Orten in Indien produziert. Dann geht es mit dem Schiff Richtung Europa, durch den Suezkanal – und was passiert, wenn sich dort ein Schiff querstellt, das wissen wir seit der Havarie der “Evergreen” im Jahr 2021. Wochenlang war der Transportweg blockiert, der Schiffstau löste sich nur langsam auf.
Nicht nur dem Pfad des niedrigsten Preises folgen
Doch auch eine durchgehende Produktion in Österreich würde uns nicht vor Engpässen schützen, erklärt Lieferkettenexperte Peter Klimek im Interview. Denn zu einer reißfesten Lieferkette gehört auch, dass man den Bedarf kennt und für die nächsten Monate plant und vorproduziert. Mittlerweile wird dieses Problem auch von der EU-Kommission angegangen: Sie will die Produzenten dazu verpflichten, drohende Engpässe früher zu melden und Notfallpläne zu erstellen.
Komplexitätsforscher Peter Klimek widmet sich im Lieferketten-Forschungsinstitut ASCII den Schwachstellen von Warenströmen. Er erklärt, welche Probleme sich meistern lassen und welche Verantwortung Produzenten bei der Wahl ihrer Lieferpartner haben.
Wenn man sich die Lieferketten für gängige Medikamente ansieht, dann führen die von Wirkstoffproduzenten in Indien und China über den Suezkanal nach Europa. Die Lebenserfahrung sagt: Was kompliziert klingt, ist es irgendwann auch. Das sieht man an den Engpässen der letzten Monate. Warum setzt man also auf derart verschlungene Wege?
Viele Medikamente mit Engpässen sind nicht einmal so komplizierte Produkte. High- End- Produkte wie etwa Autos haben viel kompliziertere Lieferketten. Aber wir reden bei den Arzneimitteln insbesondere von Produkten, wo es viele Generika gibt und die deshalb nur sehr wenig Profit abwerfen. Dadurch lassen sie sich nur mehr in sehr wenigen Regionen wirtschaftlich sinnvoll herstellen, weswegen sich die Produktion in China und Indien konzentriert. Tatsächlich ist es so, dass man bei sehr vielen Medikamenten global bei einer Handvoll Produktionsstätten landet.
Und wenn es dort ein Problem gibt – vom Lockdown bis zum Brand -, ist die ganze Welt betroffen. Wie schnell kann man den Zulieferer ändern?
Es ist gar nicht so leicht, zu diversifizieren und einen anderen Zulieferer zu nehmen. Denn auf diesem ohnehin schon engen Markt gibt es auch noch eine Fragmentierung. Die Länder des globalen Nordens kaufen eher in China ein, afrikanische und asiatische Staaten in Indien. Damit verengt sich der Markt noch weiter.
Die Coronapandemie und die Schiffshavarie im Suezkanal waren laute Warnschüsse. Wurden die an den richtigen Stellen gehört?
Auf EU-Ebene gibt es einen Vorschlag der Kommission, wie man die Arzneimittelversorgungssicherheit verbessern kann. Dieser ist relativ weitreichend. Etwa sollen die Gesundheitsbehörden Informationen einfordern können, welche Lagerbestände Produzenten haben und welchen Verbrauch sie für die nächsten Monate erwarten. Diese Unternehmen sollen zudem verpflichtet werden, Präventionspläne gegen Knappheit vorzulegen. Allerdings muss man sagen: Das ist ein Vorschlag. Papier ist geduldig. Was davon umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt. In Österreich etwa stellt sich die Frage, wer für diese Dinge verantwortlich ist. Hier gibt es viele Player im Gesundheitssystem, und niemand fühlt sich zuständig.
Letzten Sommer haben die Pharmagroßhändler vorgeschlagen, ein nationales Medikamentennotlager einzurichten. Wäre das sinnvoll?
Lagerhaltung ist wichtig. Aber man muss sich genau anschauen: Wer macht es wie, wann und wo? Wenn alle weltweit zu bevorraten beginnen, kann man jetzt schon voraussagen, was nächstes Jahr passiert: Die Medikamente werden knapp, weil alle ihre Lager vollräumen, und es gibt ein Verteilungsproblem, weil einige wenige auf ihren Lagern sitzen. Also: Lagerhaltung ja, aber der Hund steckt im Detail.
Geht man von den EU-Plänen aus: Was muss in Österreich passieren?
Eine Sache ist, dass man eine Liste kritischer Medizinprodukte erstellt, die man besonders genau beobachtet. In Österreich gibt es bereits eine Liste von Vertriebseinschränkungen, wo Produzenten melden, wenn es zu Lieferengpässen kommt oder wenn sie vorhaben, vom Markt zu gehen. Das muss auf die europäische Ebene ausgedehnt werden, denn es ist nur bedingt sinnvoll, wenn man Österreich alleine betrachtet. Wir sind ein sehr kleiner Markt, das heißt, man kann sich noch etwas leichter über Beschaffungen auf dem europäischen Markt helfen, wenn es da noch etwas gibt. Hier kann man die Koordination erhöhen. Pointiert gesagt: Was jetzt geplant ist, ist nicht das Rieseninstrumentarium, um Lieferengpässe zu verhindern. Aber wir werden ihnen in Zukunft wesentlich genauer beim Entstehen zusehen können. Was dann genau an Abhilfemaßnahmen kommen könnte, ist aber noch sehr nebulös.