Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten hat den Komplexitätsforscher Peter Klimek als “Wissenschafter des Jahres” 2021 ausgezeichnet. Die Ehrung wird nicht nur für exzellente Forschung, sondern auch für das Bemühen von Forschenden, ihre Arbeit einer großen Öffentlichkeit verständlich zu machen, verliehen.

 

 

“Wiener Zeitung”: Herr Klimek, eine Studie aus Großbritannien zeigt, dass die Booster-Impfung zu 90 Prozent vor Spitalseinweisungen mit Omikron schützt. Ist das nicht ein Game Changer?

 

 

Peter Klimek: Wenn nicht gar ein Paradigmenwechsel! Boostern bleibt das wesentlichste Mittel, um schwere Verläufe auch bei Omikron zu verhindern. Wenn wir wollen, dass die nächste Welle wie in Dänemark oder Teilen Englands auch bei uns einigermaßen gedämpft in den Spitälern ankommt, sollten wir auch beim Boostern ähnlich weit kommen – und da hinken wir diesen Ländern in der Impfrate doch um etwa zehn Prozent der Bevölkerung hinterher.

 

Hand aufs Herz: Geht Ihnen Corona auf die Nerven oder ist es für Sie ein faszinierendes Forschungsprojekt?

 

 

Beides trifft zu. Natürlich nimmt man nach so langer Zeit der Pandemie Abnützungserscheinungen wahr, und natürlich war mir auch schon vor der Pandemie nicht langweilig. Wissenschaftlich ist es aber doch immer wieder interessant, dass sich in der Pandemie die Grundvoraussetzungen so schnell ändern.

 

 

Ihnen wird angerechnet, dass Sie komplexe Inhalte so erläutern, dass sie verständlich und einleuchtend sind. Ist das etwas, worauf Sie Wert legen, oder ist es eine Gabe?

 

 

Die eigenen Forschungsergebnisse zu kommunizieren, begreife ich als Teil der Aufgabe. Grundlagenwissenschaft wird vom Steuerzahler finanziert, also hat man die Pflicht, ihm zu erklären, wieso das, was wir machen, sinnvoll ist. Natürlich fällt das nicht allen so leicht. Aber ich würde es nicht so intensiv machen, wenn es mir nicht bis zu einem gewissen Grad Spaß machen würde.

 

 

Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftjournalisten verleiht Ihnen die Ehrung “Wissenschafter des Jahres” für ausgezeichnete Kommunikation von Fakten an die Öffentlichkeit. Ist es da nicht für Sie erschütternd, wenn Tausende bei Demonstrationen diese Fakten bestreiten?

 

 

Natürlich nimmt man das mit Verwunderung zur Kenntnis. Wissenschaftsskepsis ist aber nichts Neues, die Pandemie legt diese Bruchlinien nur offen. Dahinter stehen grundlegende Probleme der sozialen Fragmentierung und eines zunehmenden Aufkommens von Parallelwelten. Jeder kann sich in Social Media seine Echokammer aufbauen und dort nur mit Gleichgesinnten in Kontakt kommen, die es sicher als Akt der Solidarität verstehen, zu vermitteln, dass die Corona-Impfung gefährlich sei. Mit Fakten erreicht man sie schwer.

 

 

Laut “Eurobarometer” zum wahrgenommenen Stellenwert, Nutzen und Vertrauen in die Forschung liegt Österreich bei allen Fragen an letzter und vorletzter Stelle. Wie begegnet man dieser Wissenschaftsskepsis?

 

 

Wir haben das gesamtgesellschaftlich zu tragen, alle sind gefragt. Es besteht ja nicht nur mangelndes Vertrauen in die Wissenschaft, sondern auch in Institutionen und Regierung, die als gleich geschalteter Komplex empfunden werden. Der einzige Hebel ist, Bildung und Gesundheitskompetenz zu stärken und die soziale Fragmentierung zu bekämpfen, die ich für die Wurzel des Übels halte.

 

 

Es gibt Morddrohungen gegen Wissenschafter. Ist ihnen das auch schon passiert?

 

 

Morddrohungen hatte ich nicht. Natürlich kommen angriffige
E-Mails und Kommentare, weil ich ja auch Projektionsfläche bin für Frustration. Unmutsäußerungen möchte aber auch gar nicht überbewerten, um dieser kleinen Gruppe nicht mehr Aufmerksamkeit zu geben, als sie verdient.

 

 

Wurden in der Vermittlung der Pandemie spezifische Fehler gemacht, oder ist Wissenschaftsskepsis eine kulturelle Gegebenheit, mit der wir leben müssen?

 

 

Dass Skepsis sich ändern kann, hat Portugal vorgeführt, indem es innerhalb von zehn Jahren im “Eurobarometer” von einem der hintersten auf einen der vordersten Plätze gerückt ist. Ich sehe sie somit nicht als kulturelles Feature, mit dem wir leben müssen. Zwar hat die Rechtsesoterik auch Wurzeln in den 1930er Jahren, es gibt bei uns also gewisse historische Hintergründe für die Melange von rechtem mit esoterischem Gedankengut in der Impfgegnerschaft.

 

 

Jedoch haben wir in Österreich bisher wenig unternommen, um das zu ändern. Technologie betrachten wir in der Regel mit Hinblick auf Kosten und Risiko, anstatt Vorteile und Fortschritt zu sehen. Natürlich sind in der Kommunikation über die Pandemie Fehler gemacht worden und man hätte etwas weitsichtiger kommunizieren können. Aber häufig hätte man es zum Zeitpunkt des Vermittelns nicht besser wissen können.

 

 

Haben Sie es erlebt, dass man vonseiten der Politik Sie ersucht hat, Sachverhalte besonders drastisch oder verharmlosend darzustellen?

 

 

An mich persönlich wurden solche Anliegen nicht herangetragen. Das Spannungsfeld würde ich in der Wahl der Experten, und damit der völlig freiwillig bezogenen Standpunkte sehen.

 

 

Haben Sie den Eindruck, dass die Politik Empfehlungen der Wissenschaft folgt?

 

 

Das spielt sich auf unterschiedlichen Zeitachsen ab. Es besteht häufig sehr großes Interesse daran, etwa längerfristige Entwicklungen zu verstehen. Die daraus resultierenden Handlungsempfehlungen werden aber selten mit Nachdruck verfolgt. Wenn es ans Eingemachte geht, entsteht der Eindruck, dass die Vorschläge der Wissenschaft zwar schön und gut, aber in der Praxis nicht immer leicht umzusetzen sind. Verpflichtendes Homeoffice etwa scheitert an rechtlichen Rahmenbedingungen und letztlich findet sich immer eine wissenschaftliche Meinung, die das eigene Vorgehen stützt.

 

 

Wie wird die Wirkung von Corona-Maßnahmen modelliert? Gibt es Formeln wie: “Maskenpflicht draußen ergibt nach drei Wochen ein bestimmtes Resultat an Fallzahlen”?

 

 

Theoretisch ja, praktisch nein. Man kann solche Formeln zwar aufstellen, nur gibt es bei jeder Modellierung auch Modellunsicherheiten. Es gibt keine exakten Abschätzungen, was es bringt, ob in der Gastro vier, sechs oder acht Leute am Tisch sitzen. Und um herauszufinden, um wie viel Masken die Virenlast verlässlich senken, müssen wir definierte Settings, wie Schulen oder Altersheime, nehmen, um sinnvolle Ergebnisse zur Ansteckungsgefahr zu bekommen. Wenn wir die Wirkung von Masken aber auf die Gesamtbevölkerung berechnen wollen, hängt der Effekt stark vom Kontext und menschlichem Verhalten ab. Keine Studie belegt, wie effektiv eine Sperrstunde um 22 statt 23 Uhr ist, aber wir wissen, dass es weniger Ansteckungen gibt, wenn weniger Leute kürzer zusammensitzen. Die Resultate von Studien sind hier meistens deutlich gröber, als es sich die Politik wünscht. Diesen Spagat müssen wir machen.

 

 

Derzeit gilt etwa: Niemand ist Kontaktperson, wenn alle Maske getragen haben. Ist das streng genug, um mit der Omikron-Welle umzugehen?

 

 

Im Großen und Ganzen sind die derzeitigen Maßnahmen sinnvoll zum Schutz der kritischen Infrastruktur, aber wir werden damit die Omikron-Welle nicht so wesentlich verzögern können, um ambitionierte Impfkampagnen aufzubauen. Das Gebot der Stunde ist aber, Zeit zu gewinnen, um mehr Menschen zu impfen, damit die Welle glimpflich in den Spitälern und Intensivstationen ankommt.

 

 

Man hört, dass die Datenlage in Österreich schlecht ist. Warum?

 

 

In Österreich ist es sehr schwierig, personenbezogene Datensätze zu verknüpfen. Im zentralen Epidemiologischen Meldesystem sind alle positiv Getesteten verzeichnet. In den Datenbanken der Spitäler steht, wer dort liegt. Diese Daten werden aber nicht standardmäßig verknüpft. Das heißt, von den Patienten wissen wir nicht, wann sie sich mit welcher Variante angesteckt haben. Damit haben wir keine Möglichkeit, zu berechnen, wie viele Omikron-Infizierte in den kommenden Wochen in den Spitälern landen werden.

 

 

Liegt das an technischer Unmachbarkeit oder am Willen?

 

 

Es ist kein technisches Problem. Die Institutionen müssten sich auf einen Prozess einigen, wie diese Daten zusammengeführt werden. Hier bestehen Bedenken, dass zu viel Informationen an einem Ort konzentriert werden könnte. Außerdem will niemand, dass andere zu viel von den eigenen Daten haben, vielleicht auch, weil eine solche Transparenz Unsinnigkeiten in der Spitalsfinanzierung aufdecken könnte. Am Ende gibt es Partikularinteressen von Institutionen, die befürchten, an Deutungs- und Finanzhoheit zu verlieren.

 

 

Behindert Sie die Kommunikation über Forschung an der Forschung?

 

 

Bis zu einem gewissen Grad ja. Jede Woche sind einige Stunden anderweitig vergeben. Nichtsdestotrotz gehe ich davon aus, dass Corona sich Stück für Stück abschwächen wird und dann wieder mehr Zeit ist für Forschung.Seite 20