Ein Ende der Preisrally ist nicht in Sicht. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sind die Rohstoffpreise außer Kontrolle geraten. Nicht nur Erdöl und -gas werden immer teurer, auch für Weizen muss immer mehr bezahlt werden. Schließlich kommt fast ein Drittel der weltweiten Exporte aus Russland und der Ukraine, bei Sonnenblumenöl und -samen ist es gar rund die Hälfte. Aus Furcht vor Lieferengpässen reißen sich immer mehr Anleger um Weizen; Panikkäufe trieben dessen Preise schon vor einigen Tagen auf ein Rekordhoch.
Hinzu kommt, dass die ukrainische Regierung den Export mehrerer Agrarprodukte ausgesetzt hat. Betroffen seien Roggen, Hafer, Hirse, Buchweizen, Salz, Zucker, Fleisch und Vieh, wie die Nachrichtenagentur Interfax berichtete. Außerdem würden unter anderem für Weizen, Mais, Hühner, Eier und Sonnenblumenöl nun Export-Lizenzen benötigt. Und da die Abnehmer nun auf der Suche nach anderen Quellen sind, könnten Ausfuhrbeschränkungen anderer Produzenten folgen. So hat Ungarn bereits Weizenexporte verboten.
Niedrige Lagerbestände
Verschärft wird die Versorgungskrise durch die niedrigen Lagerbestände. Dem Branchenverband International Grains Council (IGC) zufolge werden die Reserven der großen Exporteure EU, Russland, USA, Kanada, Ukraine, Argentinien, Australien und Kasachstan in der aktuellen Erntesaison 2021/2022 auf ein Neun-Jahrestief von 57 Millionen Tonnen fallen. Dies reicht gerade einmal aus, um den weltweiten Bedarf für 27 Tage zu decken. Werden die russischen und ukrainischen Lagerbestände herausgerechnet, sinkt diese Frist auf weniger als drei Wochen.
Die große Unbekannte in diesem Komplex ist China. Laut IGC sitzt das Land auf 131 Millionen Tonnen Weizen, knapp der Hälfte der weltweiten Reserven. Diese Zahlen lassen sich aber nur schwer verifizieren, da die Regierung in Peking diese als strategisch wichtig betrachtet. In dem Zusammenhang hatte das Land in der Saison 2005/2006 Mindest-Abnahmepreise eingeführt, um die chinesischen Bauern zum Weizenanbau zu motivieren. China hat in den vergangenen Jahren jeweils etwa eine Million Tonnen Weizen exportiert, unter anderem nach Nordkorea.
Das aktuelle Kriegsgeschehen nährt jedenfalls Sorgen um die Ernährungssicherheit. In der EU führt dies zu einer Reihe von Dringlichkeitssitzungen, auch ein Sondertreffen der Landwirtschaftsminister der G7-Staaten ist geplant. Woanders – etwa im Irak – stellen Regierungen zusätzliche Mittel für Weizenkäufe zur Verfügung und wollen strategische Reserven anlegen. Vor allem aber bereiten die Ausfälle Staaten in Nordafrika und im Nahen Osten Probleme. Diese Länder sind Hauptabnehmer für Weizen und subventionieren häufig Brot als Grundnahrungsmittel.
Dass dies auch als Beitrag zur Sicherung politischer und sozialer Stabilität genutzt wird, zeigt etwa der Arabische Frühling. Einer der Auslöser der Unruhen waren gestiegene Preise für Getreide – und damit unter anderem für Brot.
Daher warnte der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, der seine Kollegen zu dem G7-Treffen eingeladen hatte, schon vor größeren Versorgungsengpässen außerhalb der EU, wobei er die Lebensmittelversorgung in der Union selbst für gesichert hält. Bei der Zusammenkunft am Freitag soll nun gemeinsam mit Vertretern der EU-Kommission, Hilfsorganisationen und dem ukrainischen Agrarminister beraten werden, wie die Märkte stabilisiert werden könnten.
Nicht nur Politiker, auch Wissenschafter mahnen, dass der Ausfall der landwirtschaftlichen Produktion der Ukraine eine “ernsthafte Bedrohung für die weltweite Ernährungssicherheit” darstelle. So formulieren es etwa die Experten des Complexity Science Hub (CSH) Vienna. Betroffen wären vor allem Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas, aber auch europäische Staaten würden Verluste spüren.
Enorme Auswirkungen
Die Berechnungen der Komplexitätsforscher beruhen auf Daten des globalen Handels für landwirtschaftliche Erzeugnisse. Betrachtet wurden dabei 125 Agrarprodukte und 118 verschiedene Produktionsprozesse. In der in der Vorwoche veröffentlichten Analyse sind die Wissenschafter von einem Worst-Case-Szenario mit einem vollständigen Produktionsverlust ausgegangen.
So würde durch den Ausfall der ukrainischen Exporte beispielsweise Lettland 83 Prozent seiner zur Verfügung stehenden Menge an Mais verlieren. Bei Sojabohnen würde der Verlust des Libanon bei 99 Prozent liegen, jener Polens bei 81 Prozent. Vom Ausfall ukrainischer Weizenexporte wiederum wäre vor allem Ägypten betroffen, mit 45 Prozent Verlust. (reu/apa)