Kurz vor Weihnachten haben Corona-Forscher im Fachjournal “Lancet” einen vielbeachteten Aufruf publiziert. Gefordert wurde damals eine viel ambitioniertere Zielsetzung der Politik, die Infektionszahlen deutlicher zu senken, vor allem aber ein koordiniertes Vorgehen der EU-Staaten. Denn Europa ist seit Herbst in einer Dauerwelle, die Fallzahlen des Kontinents rangieren konstant zwischen 200 und 400 pro Tag und Million Einwohner. In den einzelnen Ländern schwanken die Inzidenzen jedoch stark. Und kaum hat es ein Land scheinbar geschafft, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen, geht es anderswo durch die Decke, aktuell in Spanien und Portugal, während die Zahlen in der Schweiz und Österreich leicht fallen.

 

Man kann nicht sagen, dass der Aufruf vor Weihnachten von Europas Politik sofort umgesetzt worden wäre, verhallt ist er aber nicht. Besonders nach dem Aufkommen der neuen Virusvariante sind die Ziele der Regierungen tatsächlich ambitionierter geworden. Auch Österreich hat die angepeilten etwa 1.200 Neuinfektionen pro Tag halbiert. Deutschland diskutiert sogar ein noch stärkeres Absenken der Infektionszahlen.

 

Mit dem koordinierten Vorgehen hapert es aber bisher. Neue, infektiösere Mutationen des Virus, wie etwa der Variante B.1.1.7., haben die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens noch einmal unterstrichen. Unter anderem deshalb haben sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter erneut mit einer Stellungnahme im Fachjournal “Lancet” zu Wort gemeldet. Sie wiederholten darin ihre Forderung nach einem paneuropäischen Vorgehen, und in recht drastischen Worten warnen sie auch vor einer zu zaghaften Antwort der Politik auf die Herausforderungen der Mutationen. “Wenn Varianten wie B.1.1.7. zu einer neuen Welle führt, könnte dies das Gesundheitspersonal überfordern und eine Zerrreißprobe für die Gesundheitssysteme darstellen”, heißt es in dem Aufruf, zumal das Personal bereits im Vorjahr unter extremen Bedingungen gearbeitet hat, die psychische und physische Belastung extrem ist.

 

Ein wirklich gemeinsames Vorgehen der EU-Staaten in der Pandemiebekämpfung ist vorerst nicht zu erwarten. In den vergangenen Wochen war aber zumindest ein intensiverer Austausch zu vernehmen, und am Donnerstagabend ist auch eine Videokonferenz der EU-Staatschefs geplant, in deren Vorfeld Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel auch Druck aufgebaut hat. “Wenn Länder ganz andere Wege gehen sollten, dann müsste man auch zum Äußersten bereit sein und sagen: Dann müssen wir wieder Grenzkontrollen einführen”, sagte Merkel.

Reisebeschränkungen wirken

 

Eine Wiederholung von Grenzschließungen Grenzen wie im Frühling, damals als Folge nationaler Entscheidungen, nicht als gemeinsamer Beschluss der EU, will man seither aufgrund der wirtschaftlichen Kollateralschäden unbedingt vermeiden. Die grassierende neue Variante hat aber die Rahmenbedingungen verändert. Und Reisebeschränkungen jeglicher Art sind – “leider”, wie Thomas Czypionka sagt, Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien und einer der österreichischen Autoren der Studie, ein wirksames Mittel. “Sie widersprechen dem europäischen Geist, aber Eintragungen lassen sich dadurch verhindern.”

 

In welchen Ländern und Regionen neue Varianten verbreitet sind, ist derzeit noch Gegenstand der Forschung. Bisher ist es eher ein Blindflug. Zwar verdichten sich nun die Erkenntnisse, dass die höhere Infektiosität eher bei plus 30 Prozent als bei 50 Prozent liegt, wie anfangs befürchtet. “Das darf man aber nicht als Entwarnung verstehen”, sagt der Komplexitätsforscher Peter Klimek, ebenfalls einer der Autoren. Er befürchtet vielmehr, dass bei einer weiteren Verbreitung der neuen Variante die Kontrolle über das Infektionsgeschehen in Österreich mit den derzeitigen Maßnahmen und der derzeitigen Compliance (Mitwirkung) verloren gehen könnte.

 

Denn B.1.1.7. dürfte in Österreich tatsächlich noch nicht sehr verbreitet sein, darauf deuten die ersten Untersuchungen hin. Das neue Virus dürfte sich dennoch bereits exponentiell verbreiten, aber eben mit niedrigen Zahlen. Wenn diese aber einmal gewisse Grenze erreichen, skaliert es sich sehr rasch nach oben, wie das zu Beginn der Pandemie zu sehen war. “Wir sind in einer neuen Phase der Pandemie”, sagt Klimek.

Mitwirkung der Bevölkerung muss in den Fokus rücken

 

Der Aufruf der Wissenschafter weist keinen konkreten Weg, wie das Ziel der Eingrenzung gelingen kann. Die Forschung kann heute aber viel besser die verschiedenen Maßnahmen bewerten, also welche mehr und welche weniger gut wirken. Auf dieses Wissen kann die Politik zurückgreifen – und tut es auch. Was allerdings schwer zu berechnen ist, die die Einhaltung der Regeln, die sehr stark variiert. Generell wird die Relevanz der Compliance von der Politik wenig beachtet. Auch darauf geht der Aufruf explizit ein, denn auch die beste Maßnahme wirkt nicht, wenn sie umschifft wird. “Es wird keine Einhaltung der Regeln ohne soziale und ökonomische Unterstützung geben”, sagt die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack.

 

Im Dezember haben bei einer Umfrage des sogenannten Corona-Panels der Uni Wien, an der Prainsack mitwirkt, bereits 20 Prozent erklärt, dass sie sich Quarantäne nicht mehr leisten können. Es mehren sich Berichte und Daten über Kinder, die krank in den Kindergarten geschickt werden, Personen, die sich aus Furcht vor den Konsequenzen eines positiven Ergebnis den Tests entziehen. “Wir wissen aus unseren Studien, dass die Leute die Regeln nicht deshalb nicht einhalten, weil sie die Regeln nicht kennen, sondern weil sie es psychisch und ökonomisch nicht mehr aushalten.”

 

Die Bedürfnisse und Belastungen in der Bevölkerung sind vielfältig. “Man muss erheben, was den Menschen wichtig ist”, sagt Czypionka. Dann könnten, begleitet von entsprechender Kommunikation und Prävention, gewisse Ventile geschaffen werden. Vereinfacht gesagt: Man lässt gewisse Kontakte zu, erlaubt einige Freizeitaktivitäten mehr, um dafür aber die Compliance zu verbessern und damit das epidemiologische Risiko insgesamt zu verbessern.