“Wiener Zeitung”: Österreich soll nach dem Shutdown wieder langsam hochfahren. Was ist da zu beachten?

Stefan Thurner: Man muss das Schritt für Schritt und sehr behutsam machen. Denn wenn die Sozialkontakte wieder so dicht werden, wie sie vorher waren, wächst auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Sars-CoV-2-Virus wieder, und es gibt rasch eine Verdopplung der Fälle binnen ungefähr drei Tagen. Freilich: Wir sind jetzt viel besser vorbereitet, tragen Masken, die Bürgerinnen und Bürger wissen, was zu beachten ist. Aber: Das Virus ist in den vergangenen Wochen nicht verschwunden.

Also müssen wir, wenn die Ära der neuen Normalität beginnt, weiterhin die Sozialkontakte einschränken, Masken tragen, eine App installieren und alles unternehmen, damit das Virus nicht überspringt?

Genau. Dazu kommt: Das Virus tritt in Clustern auf. Auf solche Clusterbildungen müssen wir ein sehr genaues Auge haben. Also müssen wir sehr genau auf Pflegeheime, Spitäler, aber auch Schulen, Universitäten und schließlich den Arbeitsplatz achten. Überall, wo viele Menschen zusammenkommen, kann sich potenziell das Virus wieder rasch ausbreiten.

Was muss bei der Wiedereröffnung von Schulen beachtet werden?

In den Klassen treffen 25, 30 Schülerinnen und Schüler aufeinander. Die Jüngeren halten sich vielleicht auch nicht so strikt an die Verhaltensregeln. Fakt ist: Sobald man die Maßnahmen zurückfährt, steigt die Ansteckungsgefahr wieder. Die Herausforderung, vor der nun die Politik steht, ist wie jene eines Kapitäns eines Supertankers: Wenn man den Kurs ändert, dann dauert es eine ganze Weile, bis das Schiff tatsächlich auf die Kursänderung reagiert. Diese Zeitverzögerung ist doppelt problematisch: Getroffene Maßnahmen schlagen sich erst mit starker Zeitverzögerung nieder. Doch die Politik hat ein weiteres Problem: Man kann sich auf die Karte, auf der die Untiefen und Küsten verzeichnet sind, nicht verlassen, denn diese Karte ist immer inaktuell.

Südkorea zeigt vor, wie man ganz gut durch die Covid-19-Zeit kommen kann. Ist das auch in Österreich möglich?

Ich kann mir vorstellen, dass die Kombination von einer hohen Anzahl von Tests, einer Tracing- und Tracking-App, das Tragen von Masken und konsequenter Quarantäne von Menschen mit Covid-19-Symptomen oder einem positiven Covid-19-Test gut funktionieren wird. Denn dann hat man ein gutes Bild der Lage, kann spezifisch testen und Menschen, die das Sars-CoV-2-Virus tragen, sofort isolieren. Mit einer guten immer aktuellen Datenbasis – sprich: einer App – kann man das Infektionsgeschehen frühzeitig erkennen und dann viel effizienter testen und entsprechende Maßnahmen setzen. Aber: Österreich ist nicht Südkorea. Bei uns ist alles immer ein wenig komplizierter. Da sind in Österreich zum Glück die Bedenken zum Datenschutz größer als in Südkorea. Es ist aber bei uns durchaus unschön zu sehen, an welch kleinen Dingen Innovationen scheitern können, die wirklichen Nutzen bringen, die durchdacht und intelligent sind, die auch von unternehmerischen Geist zeugen und von Leuten gemacht sind, die im 21. Jahrhundert angekommen sind. Da gibt es meiner Empfindung nach noch immer zu viele unnötige Stolpersteine.

Damit meinen Sie den Widerstand gegen die App.

Ich meine den generellen Widerstand gegen die App. Die aktuelle Rotkreuz-App plant, Teile der Daten bei Google auswerten zu lassen – was natürlich inakzeptabel ist. Eine europaweite Contact-Tracing-App, die unsere europäischen Datenrechte schützt, ist aber meines Erachtens absolut notwendig. Aber letztlich geht es darum, dass wir zwei Feuermauern haben, die halten müssen: erstens unser Frühwarnsystem, unsere Testkapazitäten und unsere Fähigkeit zum Tracing und Isolieren; zweitens unser Notsystem, die Zahl der Krankenhausbetten und der Intensivbetten.

Sie beschäftigen sich am Complexity Science Hub Vienna sehr intensiv mit dem Thema Resilienz. Welche Risiken sehen Sie in der nun kommenden Phase für die Wirtschaft?

Wir erforschen gerade in mehreren Bereichen, wie exponiert Österreichs Wirtschaft in Bezug auf nationale und internationale Lieferketten ist. Denken Sie an Pharma-Produkte: Wie viel Paracetamol brauchen wir? Oder ein anderes Beispiel: Es darf nicht passieren, dass Sie im Supermarkt oder im Lebensmittelladen kein Mehl mehr kaufen können. Gibt es da irgendwo einen Schwachpunkt? Weizen wird auf den Feldern produziert. Aber was ist mit einem bestimmten Maschinenteil des Traktors, des Pflugs, des Mähdreschers, der Mühle, das vielleicht schwer zu bekommen ist? Oder scheitert es am Ende an den Papiersäcken, in die das Mehl für den Verkauf verpackt wird? An einem Maschinenteil in der Papierfabrik, in der diese Säcke hergestellt werden? Entsprechende Daten füttern wir in Computermodelle und spielen durch, was passiert, wenn dieser oder jener Produzent oder Importeur ausfällt, wenn dies oder das passiert, wie man Ersatz findet oder einen derartigen Ausfall kompensieren kann.

Im Moment sieht man solche Lieferengpässe etwa bei der Schutzkleidung für Spitalsmitarbeiter oder Ärzte.

Absolut. Aber das Kernproblem bleibt: In unserem Wirtschaftssystem lautete in den vergangenen 20, 30 Jahren das Mantra: Effizienz, Effizienz, Effizienz. Arbeitskosten senken und Arbeitsplätze verlagern, Lagerflächen zurückfahren, Logistikketten optimieren. Verschlanken, verbilligen, verkleinern. Das ist alles wunderbar, solange alles gut läuft. Wir haben aber vergessen, auf die systemischen Risiken zu achten, die wir damit erzeugen. Ich kann immer etwas effizienter machen. Aber das macht ein System oft auch verwundbarer und instabiler, wenn ich keine Reserven, keine Redundanzen, keine Alternativen habe.

Ich kann also einen Sessel mit vier Beinen bauen, einen Schemel mit drei. Ich habe dabei Holz gespart. Aber ein Sitzmöbel mit nur zwei Beinen fällt um?

Genau das ist das Problem. Aber bedenken Sie: Ein Schemel mit drei Beinen braucht weniger Holz und wackelt sicher nicht. Effizienz und Stabilität müssen kein Widerspruch sein. Man kann beides haben. Man muss nur die Netzwerke im System anders – damit meine ich bildlich gesprochen engmaschiger und mit stabilerer Seide – knüpfen. Sich von einem einzigen Zulieferer abhängig zu machen, ist viel zu gefährlich. Also muss man dafür sorgen, dass einzelne Akteure in einem Sektor nicht zu zentral werden. Man muss also Alternativen diesem Akteur fördern oder mit kartellrechtlichen Mitteln dafür sorgen, dass Monopole in Zulieferketten zerschlagen werden.

Wenn Österreich beweist, dass es gut durch diese Pandemie gekommen ist, wenn Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zeigen, dass sie Schocks gut verdauen können, ist das dann nicht ein Standortvorteil?

Sollte man meinen. Wenn sie vernünftige Leute haben, die diese Investitionsentscheidungen treffen und die einen langen Planungshorizont haben, dann ja. Leider sind viele Top-Manager aber geradezu dazu gezwungen, auf den nächsten Quartalsbericht zu schielen, anstatt die längerfristige Perspektive im Auge zu haben. Aber vielleicht gibt es nun Hoffnung auf Veränderung.

Sind Fragen der Versorgungssicherheit nicht auch Fragen der Sicherheitspolitik? Niemand käme auf die Idee, einen Abfangjäger oder einen Schützenpanzer in China oder Indien fertigen zu lassen. Bei Medikamenten, Testreagenzien und Spitalsbedarf ist das anders.

Als altmodischer Mensch würde ich das sofort unterschreiben, und als naiver Staatsbürger habe ich mir gedacht, dass das auch so ist. Aber jetzt wird offenbar, wie schnell man da an eine Grenze stößt. Ich denke, dass in Hinblick auf internationale Lieferketten bei bestimmten Produkten ein Umdenken stattfinden wird. Es wird in Zukunft darum gehen, bestimmte Instabilitäten wieder aus dem System zu bekommen.

Reden wir über Kooperation: Die internationale Staatengemeinschaft wirkt paralysiert, was angesichts von Figuren wie Donald Trump, Xi Jinping, Wladimir Putin und Jair Bolsonaro niemanden überrascht. Kooperieren wenigstens die Wissenschafter?

Absolut. Das ist ein Netzwerk, das ja normalerweise unsichtbar ist. Die Kooperation erfolgt in meiner Wahrnehmung auf einem bisher ungekannten und effizienten Niveau. Wir tauschen Daten, Methoden und Ergebnisse aus, in Teams bestehend aus vielen Unis und Instituten, die über den Globus verstreut täglich in Skype-Meetings dabei sind, diskutieren Rechenmodelle, entwickeln gemeinsam Ideen – über Grenzen und Kontinente hinweg. Es geht alles gefühlte zehnmal so schnell. Ich möchte aber zumindest die heimische Politik in Schutz nehmen: Mein Eindruck ist, dass viele Entscheidungsträger von Anfang an auf den Rat der Wissenschaft gehört haben.

Welchen Rat haben Sie für die Politik?

Erstens: Europa braucht nach der ersten Notfall-Phase wieder offene Grenzen. Europa sollte grundsätzlich die kleinste Einheit in all unseren Betrachtungen sein. Zweitens: Wir brauchen neue Spielregeln im Wirtschaftssystem: Verursacherprinzip, Bewertung der systemischen Gefahr, Versicherungsprinzip. Wirtschaftliche Aktivität, die Schäden verursacht – etwa Klimaschäden -, muss diese Schäden einpreisen. Wenn ein Akteur im Wirtschaftsgeschehen eine systemisch zentrale oder monopolistische Rolle einnimmt, dann ist das negativ. Es muss in diesem Fall Anreize geben, dass es neben diesem Akteur auch andere gibt, die bei einem Lieferausfall lieferfähig sind. Sonst krachen wir in eine verheerende Lieferkettenkrise. Und wenn es zu Ausfällen und Schäden kommt, muss sichergestellt sein, dass auch der monopolistische Akteur – und nicht die Allgemeinheit oder der Staat – für das systemische Risiko geradesteht. Zumindest diese Lehren sollten wir aus der Corona-Krise ziehen.

Glauben Sie, dass das passieren wird?

Es gilt das Prinzip Hoffnung.