Was nächtliche Ausgangssperren bringen

 

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Im Kampf gegen Corona ist eine bundesweite nächtliche Ausgangssperre im Gespräch. Doch was würde das bringen? Politiker sind uneins, Wissenschaftler auch.

Die dritte Corona-Welle hat Deutschland im Griff. Die Zahl der Neuinfektionen steigt exponentiell, die Belastung auf den Intensivstationen ist höher als zu den Spitzenzeiten der ersten Welle vor einem Jahr. In der Diskussion um härtere Corona-Maßnahmen werden nun wieder nächtliche Ausgangssperren ins Spiel gebracht.

 

Die gab es bisher nur regional in Gebieten mit hohen Inzidenzen – beispielsweise in Hessen, Sachsen, Bayern oder Thüringen. Zuletzt hat das Land Niedersachsen seine Corona-Verordnung verschärft: Ab heute müssen dort Kommunen mit einem Inzidenzwert von mehr als 150 nächtliche Ausgangssperren verhängen.

 

Kanzlerin Angela Merkel nannte in der ARD-Sendung “Anne Will” zusätzliche Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren als mögliche Maßnahmen, um die Zahlen wieder zu senken. “Ich werde jedenfalls nicht zuschauen, dass wir 100.000 Infizierte haben”, sagte sie. Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert im WDR einen “harten Lockdown, auch mit Ausgangssperren”.

 

FDP-Chef: Ausgangssperren “epidemiologisch unwirksam”

 

Gegen pauschale bundesweite Einschränkungen der Bewegungsfreiheit hat sich unter anderem Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch ausgesprochen. Ausgangssperren seien “ein wirklich hartes Mittel, das man nur im äußerten Notfall anwenden soll”, sagte er im ARD-“Morgenmagazin”. Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen lehnte nächtliche Ausgangssperren als “unspezifisch” ab. Diese seien das am wenigsten wirksame und “letzte Mittel” in einer Kette von Dingen, “die jetzt dringend erforderlich sind”, sagte er RTL und ntv.

Bundeskanzlerin Merkel lehnt alle Lockerungsversuche entschieden ab – doch die Bundesländer wollen weiterhin daran festhalten.

Ähnlich sieht es FDP-Chef Christian Lindner: Ein solcher Schritt sei “nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheit”, sagte Lindner dem Fernsehsender Phoenix – er sei auch “epidemiologisch unwirksam”.

 

Was ist dran an der Kritik? Wie viel bringen Ausgangssperren im Kampf gegen die Pandemie? Darüber herrscht nicht nur bei Politikern, sondern auch innerhalb der Wissenschaft Uneinigkeit. Die Datenlage ist – zumindest was die Effektivität der bisherigen nächtlichen Ausgangssperren in Deutschland betrifft – dürftig. Eine systematische Auswertung gibt es hierzulande bisher offenbar nicht, dem Robert-Koch-Institut sind jedenfalls “hierzu keine Untersuchungen bekannt”, heißt es auf Anfrage von ZDFheute.

 

Internationale Studien liefern kein einheitliches Bild

 

Wenn Kommunen nächtliche Ausgangssperren erlassen haben, sind zwar vielerorts die Inzidenzen gesunken. Doch inwieweit das auf die Ausgangssperren selbst oder auf weitere Maßnahmen zurückzuführen ist, lässt sich nur schwer abschätzen.

“Keinesfalls unterschätzen”, so Professor Dirk Brockmann, dürfe man die Dynamik dieser Infektionskrankheit. Der Spezialist für die Modellierung von Epidemien sieht aber Grund zur Hoffnung, dass die 3. Welle kontrolliert werden kann.

Internationale Studien liefern kein einheitliches Bild: Eine britische Studie der Universität Oxford, die die Auswirkungen von Corona-Maßnahmen untersucht hat, kommt zu dem Schluss: Einfache Kontaktbeschränkungen haben den größten Effekt auf die Infektionszahlen. Dazu gehört: Schulen schließen, Ansammlungen von Menschen auf maximal zehn Personen reduzieren, Einrichtungen schließen, in denen sich Menschen näher kommen, wie Bars, Restaurants oder Fitness-Studios. “Der zusätzliche Effekt von Ausgangssperren war vergleichsweise gering”, heißt es in der Studie.

 

Mobilitätsforscher: Ausgangssperren reduzieren Kontakte effektiv

 

Die Pressestelle des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege teilt auf ZDFheute-Anfrage jedoch mit, “die Effektivität von Ausgangsbeschränkungen wird von wissenschaftlicher Seite überzeugend bestätigt”. Sie verweist auf eine internationale Studie von Forschern des Wiener Complexity Science Hub, die ebenfalls die Auswirkungen verschiedener Corona-Maßnahmen untersucht hatten. Die Wissenschaftler bezeichnen Ausgangssperren als eine der effektivsten Maßnahmen.

 

Auch der Mobilitätsforscher Kai Nagel von der TU Berlin kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Er und seine Kollegen simulierten am Computer das Infektionsgeschehen unter dem Einfluss von verschiedenen Maßnahmen. Abendliche und nächtliche Ausgangssperren hätten demnach sehr wohl einen Effekt, da sie die privaten Kontakte reduzieren. “Es ist allerdings anzunehmen, dass die Bevölkerung mittelfristig auf frühere Besuchszeiten ausweicht, insofern ist dies ein Werkzeug, welches relativ schnell stumpf werden dürfte,” schreiben die Autoren im sogenannten “Modus-Covid Bericht”.

Saarlands Tobias Ministerpräsident Hans: “Ausgangssperren im Saarland nicht wirksam”, weil es ohnehin die strengsten Kontaktbeschränkungen gebe.

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans verweist im ZDF-Interview darauf, dass Ausgangssperren in seinem Bundesland nicht wirksam seien, “weil wir mit die strengsten Kontaktbeschränkungen auch im privaten Raum haben”.

 

RKI-Experte Brockmann: “Dritte Welle besonders besorgniserregend”

 

Was also tun? Der Epidemiologe Dirk Brockmann hält vor allem drei Dinge für entscheidend. Erstens müssten “Kontakte reduziert werden, damit der R-Wert dieser britischen B.1.1.7-Variante reduziert wird oder wenigstens so reduziert wird, dass diese dritte Welle nicht so stark ausfällt”.

 

Hinzu kämen das Impfen und das Testen. Die dritte Welle werde aktuell durch die Variante B.1.1.7 angetrieben, deren R-Wert 1,3 beträgt – “also deutlich höher als 1”. Das Impfen sei “höchstwahrscheinlich die stärkste Waffe”, um die dritte Welle zu kontrollieren, so Brockmann. Doch mit dem Impfen geht es bekanntlich nicht so schnell voran, wie die Regierung erwartet hatte.

Die Zahl der Corona-Intensivpatienten steigt wieder. Derzeit werden mehr als 3.000 Personen intensivmedizinisch behandelt – so viele wie zum Höhepunkt der ersten Welle.

Wären bundesweite Ausgangssperren rechtlich möglich?

 

Wären flächendeckende nächtliche Ausgangssperren denn rechtlich überhaupt möglich? Dabei kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Situation eine Ausgangssperre verhängt wird – entscheidend für die Rechtmäßigkeit ist die aktuelle Infektionslage. Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner von der Universität Augsburg sagte im NDR, dass eine Ausgangsbeschränkung bereits ab einer Inzidenz von 100 vermutlich rechtswidrig sei – angesichts der “Intensität” des Grundrechtseingriffs bei einer nur “mäßigen” Inzidenz. Somit wären bundesweite Ausgangssperren rechtlich schwer möglich, solange die Inzidenzen in manchen Regionen niedrig sind.

 

Die Gerichte haben bisher mehrheitlich entschieden, dass die bisher verhängten Ausgangsbeschränkungen rechtmäßig sind. Insbesondere bei steigenden und hohen Inzidenzwerten sei dies verhältnismäßig. Eine Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Freizügigkeit und dem Schutz der Allgemeinheit sowie der Funktionalität des Gesundheitswesens falle in einem solchen Fall zugunsten letzterer aus.

 

Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob jedoch im Februar die Ausgangssperre auf, die für ganz Baden-Württemberg galt – die Inzidenz lag landesweit unter 50. Die Gerichte stützen sich bei ihren Entscheidungen insbesondere auf die im Infektionsschutzgesetz genannten Inzidenzwerte.

 

Fazit: Dass Ausgangssperren einen Effekt auf das Infektionsgeschehen haben, bestreiten auch Kritiker nicht. Die Frage bleibt jedoch: Wie groß ist der Effekt – und sind die mit Ausgangssperren verbundenen Freiheitsbeschränkungen verhältnismäßig?

 

Mit Material von AFP, dpa