Vielleicht war’s die Erkältung neulich – und bald zeigt ein Test: Ich bin immun und fein raus! Über die trügerische Hoffnung auf eine Dunkelziffer, die keiner kennt.Einer der ersten Hinweise kam im März aus Italien. Im Dorf Vó in der nordöstlichen Provinz Padua war der erste Mensch in Italien an der neuen Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Der Schock darüber und die Tatsache, dass in Vó nur etwas mehr als 3.000 Menschen leben, erlaubten es, alle Einwohner sofort unter Quarantäne zu stellen und auf das Coronavirus zu testen. Es stellte sich heraus: Knapp drei Prozent, nämlich 88 der 3.341 Einwohner, waren infiziert, als sie getestet wurden. Und nach der strengen Quarantäne etwa eine Woche später, als wieder getestet wurde, hatte sich die Zahl nicht weiter erhöht. Mehr als die Hälfte der betroffenen Menschen aber gab an, keine Krankheitssymptome gespürt zu haben. Sie hatten den Corona-Infekt also “im Dunkeln” durchlaufen.

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Kein Husten, kein Fieber, keine Gliederschmerzen oder schweres Atmen. Einfach nichts. Und doch, ganz unbemerkt, hatten einige der Dorfbewohner eine Infektion mit dem Coronavirus Sars-Cov-2 überstanden. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam um Enrico Lavezzo von der Universität Padua in einem noch unveröffentlichten Forschungsbericht. Wäre nicht das gesamte Dorf sofort isoliert worden, hätten diese Menschen, die keine Ahnung hatten, dass sie infiziert waren, sicherlich weitere Menschen angesteckt – und die Geschichte des Dorfes wäre ganz anders verlaufen.

 

Krank, ohne etwas zu spüren?

 

Was nun, wenn sich herausstellte, dass es vielen so geht? Dass sie sich zwar angesteckt haben, aber nicht schwer erkrankt sind und sich deshalb auch nie haben testen lassen? Und wenn es sehr viele dieser Menschen gäbe, die zwar nur sehr milde Symptome haben, aber doch andere infizieren können: Könnte es dann nicht sein, dass bereits ein größerer Teil der Bevölkerung – auch hier in Deutschland – immun ist gegen das Coronavirus, ohne es zu wissen? Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein.

 

Die Frage nach der Dunkelziffer begleitet Expertinnen und Forscher schon seit Beginn der Pandemie: Wie hoch ist die Zahl der unentdeckt Infizierten, die in keiner Statistik auftauchen? Die Schätzungen hierzu schwanken stark. Aber die Antwort darauf ist gleich in mehrfacher Hinsicht wichtig: Sie entscheidet darüber, wie wir das Virus bekämpfen müssen. Und sie kann verraten, wie tödlich es wirklich ist. Denn das weiß bis heute niemand genau. Um sagen zu können, wie viele Menschen anteilig an der Seuche sterben, müsste man alle kennen, die infiziert sind. Das erklärt auch, warum die Sterblichkeitsrate (die Infection Fatality Rate) von Corona mal mit weniger als einem Prozent, mal weit höher angegeben wird. Genau kennen werden wir diese erst in einigen Jahren, vielleicht auch nie.

 

Bereits Ende Januar gab es Hinweise aus Deutschland, dass auch Menschen, die fast keine Symptome bemerken, andere mit dem Virus anstecken können (New England Journal of Medicine: Rothe et al., 2020). Neueste Studien weisen darauf hin, dass die Ansteckungsgefahr gerade dann, noch vor dem Auftreten der ersten Symptome, besonders hoch sein könnte. Das schreibt eine Arbeitsgruppe in Nature Medicine, die 94 Patientinnen und Patienten und 77 Ansteckungen prüfte (He et al., 2020). Wie oft das aber wirklich vorkommt, und ob die meisten Menschen nicht doch irgendwann Symptome haben, ist nicht geklärt. Während einer das Kratzen im Hals nicht bemerkt, geht der andere mit denselben Beschwerden sofort zum Arzt.

Der Mythos der hohen Dunkelziffer

 

Die These von der hohen Dunkelziffer schien sich zu Anfang der Epidemie von einer vielzitierten Simulationsstudie vom Imperial College in London (Science: Li et al., 2020) ableiten lassen. Forscherinnen und Forscher um Ruiyun Li errechneten damals, dass auf jeden nachweislich Infizierten etwa sieben unentdeckte Fälle kommen könnten. Die Daten dafür stammten aus 375 Städten in China. Im Nachhinein modellierten die Forscher, wie sich das Virus im Zeitraum zwischen dem 10. und dem 23. Januar 2020 ausgebreitet hatte. Ihr Fazit: Mehr als 80 Prozent aller Infektionsfälle könnten unerkannt geblieben sein. Doch dabei gibt es ein Problem. In Modellierungsstudien werden immer Annahmen getroffen. Und auch wenn solche Modelle sehr gut sein können, hängen sie immer auch von den Parametern ab, die man berücksichtigt. Und viele davon sind beim aktuellen Ausbruch eben sehr unsicher.

 

Weitere Hinweise auf unbemerkte Erkrankungen, die also auch für eine potenziell hohe Dunkelziffer sprechen könnten, stammen aus Island. Dort wurden im Verhältnis zur Gesamtpopulation bislang die meisten Tests durchgeführt. Einen Teil davon führte die isländische Regierung an der allgemeinen Bevölkerung durch. Unterstützt wurde sie dabei von dem isländischen Unternehmen deCode Genetics, das sich auf die Erforschung des menschlichen Genoms, also auf das Erbgut spezialisiert hat. Dessen Gründer wiederum, Kári Stefánsson, sagte dem Nachrichtensender CNN, dass etwa die Hälfte der positiv Getesteten laut eigener Aussage keine Symptome von Covid-19 gehabt habe.

 

Aktuell können wir der Forschung live dabei zusehen, wie sie Stück für Stück neue Erkenntnisse über das Coronavirus erlangt – einige mit mehr, andere mit weniger Aussagekraft. Wir warten auf Zwischenergebnisse und wollen, dass Experten diese schnellstmöglich interpretieren, sodass die Politik ihre Strategie daran anpassen kann. Dass das auch schiefgehen kann, zeigte sich etwa, als ein Team um den Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn Zwischenergebnisse einer Studie aus dem besonders vom Coronavirus betroffenen Kreis Heinsberg vorstellte.

 

Diese wurden sofort breit rezipiert, vom NRW-Landeschef Armin Laschet als Argument für schnellere und mehr Lockerungen aufgegriffen und von verschiedenen Seiten – zu Unrecht – auf die Situation in Gesamtdeutschland übertragen. Denn für diese Folgerungen lieferten die vorläufigen Ergebnisse keinerlei Grundlage. Publiziert ist dazu bisher nichts, die genauen Daten für andere Forscher und Wissenschaftsjournalisten nicht einsehbar. Selbst wenn in Gangelt im Kreis Heinsberg mehr Menschen eine Infektion mit dem Coronavirus durchgemacht hätten, als Tests bislang ergeben hatten, lässt sich dieses Ergebnis nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragen.

Bisherige Studien sind nicht repräsentativ

 

Wären die Ergebnisse aus Gangelt und aus Vó nun tatsächlich auf andere Länder, Dörfer oder Städte übertragbar, könnte die Herdenimmunisierung schon weiter vorangeschritten sein als bislang gedacht. Dass ein höherer Anteil aller damit vielleicht immun ist, hoffen auch viele in Deutschland. Denn dann könnten wir einerseits darauf hoffen, dass die Zahl der Toten nicht in kurzer Zeit stark ansteigt – wie das in anderen Ländern noch immer passiert. Und wir könnten andererseits guten Gewissens auf die anlaufenden Lockerungsmaßnahmen in Deutschland schauen.

 

Der Haken hierbei: Die Daten aus Gangelt und Vó sind keine repräsentativen Stichprobenstudien, deren Ergebnis auf andere Gruppen oder gar die Gesamtgesellschaft hochgerechnet werden könnte. Sie beziehen sich auf besonders stark betroffene Gebiete. Um sich aber der Frage zu nähern, wie hoch die tatsächliche Zahl der Infizierten in ganz Deutschland ist und wie viel höher sie ist als die bestätigten Fälle, braucht es eben für Deutschland repräsentative Studien. Große Stichproben also, in denen eine zufällig ausgewählte Gruppe von Menschen – nicht nur die mit begründetem Corona-Verdacht oder Kontakt zu Infizierten – getestet wird.

 

So eine Erhebung läuft momentan in München. Mit einer Kohortenstudie soll die Verbreitung des Virus und die mögliche Dunkelziffer der bereits Infizierten erforscht werden. Die Forschergruppe um Michael Hölscher, Infektiologe am Klinikum der LMU und Leiter des Münchner Tropeninstituts, nimmt dafür über einen Zeitraum von zwölf Monaten immer wieder Blutproben von 5.000 bis 6.000 Menschen aus 3.000 zufällig ausgewählten Haushalten in München und testet diese auf Antikörper. In dieser Zeit führen die Probandinnen und Probanden auch ein Symptom-, Aufenthalts- und Kontakttagebuch. Falls sie Krankheitssymptome haben, wird ein Rachenabstrich genommen.

 

Die Proben werden seit dem 5. April genommen und erste Ergebnisse sind für Juni angekündigt. Studienleiter Hölscher sagte ZEIT ONLINE zu Beginn der Studie, dass er eine Dunkelziffer im niedrigen einstelligen Prozentbereich vermute. “Ich glaube, dass sich maximal zweieinhalb- bis fünfmal so viele Menschen infiziert haben, als wir durch die jetzigen Tests wissen.” Gerade in München seien speziell am Anfang des Ausbruchs viele Skiurlauber aus Österreich und Italien mit PCR-Tests – der gängigen Methode, um zu prüfen, ob jemand aktuell infiziert ist – getestet worden. Wenn sich die Zahl der Tests aber reduziere, erhöhe sich auch die Dunkelziffer wieder.

 

Auch in Österreich arbeitet man daran, der Dunkelziffer auf die Spur zu kommen. Der Plan: Eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung testen und das Ergebnis auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen. Im Auftrag der österreichischen Regierung testeten und befragten das Meinungsforschungsinstitut Sora, die MedUni Wien und das Österreichische Rote Kreuz deshalb mehr als 1.500 zufällig ausgewählte Österreicher und Österreicherinnen. Um deren Infektionsstatus – nicht Immunitätsstatus – zu erheben, führten sie Abstriche mit PCR-Tests durch und ermittelten, dass der Anteil der positiv Getesteten bei 0,33 Prozent liege.

“Schwache Verläufe nicht so häufig, wie man denkt”

 

Legt man diese Zahl nun auf die Bevölkerung von Österreich um, müssten um den Testzeitpunkt herum ungefähr 28.500 Personen infiziert gewesen sein. Offiziell gemeldet waren in der ersten Aprilwoche 12.200 Fälle. Die Zahl der mutmaßlichen Infektionen liegt damit deutlich höher als die der bestätigten Fälle. Allerdings liegen sie – Schwankungen eingerechnet – deutlich unter einem Prozent der Bevölkerung. “Schwache Verläufe, die unentdeckt bleiben, sind also nicht so häufig, wie man denkt”, sagt der Physiker und Ökonom Stefan Thurner, der die Studie an der MedUni Wien betreut. Von den hochgerechneten Infektionszahlen lasse sich also auch ableiten, dass der Immunitätsstatus des Landes noch sehr niedrig sein müsse.

 

Österreich legt damit eine der ersten Prävalenzstudien vor, in der von einer repräsentativen Gruppe auf die Bevölkerung geschlossen wird. Bereits vor der Veröffentlichung äußerten sich Wissenschaftler kritisch: Die Stichprobe sei zu klein und PCR-Tests lieferten nur eine Momentaufnahme, die nichts über die Durchseuchung aussagten. Genau diese will die Münchner Kohortenstudie mit der Kombination von Antikörpertests und PCR-Tests für Deutschland ermitteln.

 

Das fordert auch die Bundesregierung: Sie will die mögliche Immunität gegenüber Sars-CoV-2 sowohl in der Gesamtbevölkerung als auch in Bevölkerungsgruppen ermitteln. Auch das Robert Koch-Institut (RKI) plant Untersuchungen an Blutspendern und von Menschen an besonders betroffenen Orten in Deutschland. Längerfristig ist eine repräsentative Studie vorgesehen, die durch die Bestimmung von Antikörpern die tatsächliche Verbreitung, die denkbare Immunität und den Anteil der unbemerkt verlaufenen Infektionen abschätzen soll. Die ersten Ergebnisse werden im Juni 2020 erwartet. Bis dahin bleibt die Zahl der Menschen, die Covid-19 bereits unbemerkt hatten, unklar. Und auch wichtig: Wie lange und wie sicher jemand immun ist, der Corona hatte, ist ebenfalls noch nicht ausreichend erforscht.

 

Um also die Frage vom Anfang zu beantworten: Es ist gut möglich, dass längst mehr Menschen Corona hatten, als in Statistiken auftauchen. Manche davon ahnen selbst nichts davon. Doch selbst wenn die hochgerechneten Fallzahlen drei- oder viermal so hoch wären wie die Zahl der bestätigten Fälle, wäre es immer noch nur ein kleiner Teil aller Deutschen, die damit fein raus wären. Wenn Sie also glauben, der letzte harmlose Schnupfen war’s und jetzt denken: “Bestimmt hatte ich’s längst”, müssen wir Ihnen leider sagen: Das ist weiterhin unwahrscheinlich.